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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Das rein stoffliche Unterhaltungsbedürfnis der Menge, pbo_137.002
das sich früher lediglich am Leben genugthat, hat in unseren pbo_137.003
abstrakten Lebensverhältnissen durch die gütige Vermittlung pbo_137.004
der Buchdruckerkunst hier seine Rechnung gefunden, die nun pbo_137.005
schon seit drei Jahrhunderten Myriaden von Fabrikanten ganz pbo_137.006
geschäftsmäßig ausnutzen. So wenig dagegen im gesellschaftlichen pbo_137.007
Sinne zu sagen ist (wenn nicht eben öffentliches Aergernis pbo_137.008
dabei in irgendwelchem Sinne die Polizei einzuschreiten pbo_137.009
zwingt, was unter eine ganz andere Rubrik der Betrachtung pbo_137.010
fällt), so sehr ist es vom poetischen Standpunkt aus zu beklagen, pbo_137.011
daß dadurch der in dieser Welt allzeit hart bedrängten Poesie pbo_137.012
in unserer Zeit das Dasein noch mehr verkümmert wird, als pbo_137.013
gewöhnlich. Die Aufnahmefähigkeit des Publikums leidet pbo_137.014
unter der übermäßigen Quantität des absolut Unpoetischen pbo_137.015
und Widerpoetischen, das der Roman in Vertrieb bringt, nicht pbo_137.016
bloß im rein ökonomischen Bezuge. Auch der Sinn für das pbo_137.017
Poetische muß geradezu abgestumpft werden, dadurch, daß pbo_137.018
jahraus, jahrein diese Köder der Phantasie hinuntergeschlungen pbo_137.019
werden, welche die gemeinen Voraussetzungen und Erfahrungen pbo_137.020
der Menge, ihre stumpfen Anschauungen von Pflicht und Verdienst, pbo_137.021
ihre alberne Gier nach äußeren Glücksumständen, ihre pbo_137.022
grausame Freude am Schrecklichen und Verbrecherischen in der pbo_137.023
Form bunter Jllusionen und spannender Situationen dem pbo_137.024
Publikum auftischen. Dieses unterscheidet sich hier bald nicht pbo_137.025
mehr nach Rang, Stand und Bildung. Der Roman ist ein pbo_137.026
nivellierender Faktor in unserer demokratischen Zeit, zumal pbo_137.027
seitdem die Zeitung den Roman unter ihre ständigen Hilfstruppen pbo_137.028
zur Vertreibung der Langeweile ("unter dem Strich") pbo_137.029
eingestellt hat. Wie derselbe Ton der Unterhaltung hier dem pbo_137.030
Salon und der Gesindestube genügt (bald der letzteren noch pbo_137.031
der gewähltere), so kann es nicht fehlen, daß auch der höherstehende

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in unserer Zeit das Dasein noch mehr verkümmert wird, als pbo_137.013
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/141>, abgerufen am 30.04.2024.