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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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hat, als Reichtum, der einen Mann nötig hat."

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inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt, pbo_136.021
zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als historischer pbo_136.022
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und namentlich in allerneuester pbo_136.023
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unbemerkt bleiben.

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und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine pbo_136.028
herabziehende Tendenz, die, sobald ihr der überlegene Standpunkt pbo_136.029
des Poeten mangelt, das so eigentümlich auf den pbo_136.030
prosaischen Grund gebaute Werk noch unter die Prosa hinabzieht.

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zögernd ihr Anliegen vor, und Federigo ist nun vernichtet. pbo_136.002
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§ 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans.

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Ja, der Roman rivalisiert hierbei schon mit den ganz pbo_136.015
auf prosaischem Boden stehenden Wissenschaften, zumal denen pbo_136.016
der Menschenkunde im weitesten Sinne, der Geschichte, der pbo_136.017
Psychologie, der Aesthetik und Kunstwissenschaft, um hier den pbo_136.018
philosophischeren Standpunkt der Poesie, das φιλοσοφώτερον pbo_136.019
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inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt, pbo_136.021
zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als historischer pbo_136.022
Roman, Künstlerroman
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Zeit als Seelen-(krankheits)-gemälde oft den bezüglichen pbo_136.024
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Es liegt im Roman, das kann nicht verschwiegen werden pbo_136.027
und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine pbo_136.028
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/140>, abgerufen am 30.04.2024.