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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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beruhigenden Wirkungen auf das Gemüt des Hörers schon pbo_127.002
in der Darstellung vorausnimmt.

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§ 86. Gefahren des epischen Stiles.

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Nur darf die Schilderungsfreiheit nicht so weit gehen, pbo_127.005
daß sie zur Bildersucht und Beschreibungswut führt. Dadurch pbo_127.006
kommt gerade wieder Unruhe und durch das Zuviel und pbo_127.007
das Unpassende der Beschreibung Unbildlichkeit und Verschwommenheit pbo_127.008
in die Darstellung. Denn der Dichter kann pbo_127.009
und soll niemals geradezu mit den bildenden Künsten wetteifern, pbo_127.010
sondern er kann höchstens durch seine besondere Kunst, pbo_127.011
die Darstellung der Handlungen und Bewegungen, pbo_127.012
die ruhende Darstellung des Malers und Bildners der pbo_127.013
Phantasie ersetzen. Aber auch wieder in seiner besonderen pbo_127.014
Weise! Nicht alles paßt für den Maler, was der Dichter pbo_127.015
in rasch vorübergehender Andeutung dem inneren Auge vorführen pbo_127.016
darf (Häßliches, Verzerrtes u. dgl.), und manches, was pbo_127.017
beim Maler entzückt, würde in der Beschreibung des Dichters pbo_127.018
trocken und langweilig wirken. Diesen Jrrtümern der "malenden pbo_127.019
Dichter" seiner Zeit ist Lessings Laokoon*) entgegengetreten.

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§ 87. Nationalepos.

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Der Vorwurf des Epos sind eben auch wie beim Drama pbo_127.022
Handlungen, nur daß getreu dem veränderten Standpunkte pbo_127.023
des Dichters das Schwergewicht weit mehr auf die Begebenheiten pbo_127.024
gelegt wird, wie sie geschehen, und weniger auf die pbo_127.025
Persönlichkeiten, wie sie sie machen. Der Held wird daher im pbo_127.026
Epos mehr von den Begebenheiten getragen, als daß er sich pbo_127.027
ihnen überordnet wie im Drama. Die Geschicke der Vielen

*) pbo_127.028
Vollständig mit Einl. v. K. Gödeke in Sammlung Göschen Nr. 4.

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beruhigenden Wirkungen auf das Gemüt des Hörers schon pbo_127.002
in der Darstellung vorausnimmt.

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§ 86. Gefahren des epischen Stiles.

pbo_127.004
Nur darf die Schilderungsfreiheit nicht so weit gehen, pbo_127.005
daß sie zur Bildersucht und Beschreibungswut führt. Dadurch pbo_127.006
kommt gerade wieder Unruhe und durch das Zuviel und pbo_127.007
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sondern er kann höchstens durch seine besondere Kunst, pbo_127.011
die Darstellung der Handlungen und Bewegungen, pbo_127.012
die ruhende Darstellung des Malers und Bildners der pbo_127.013
Phantasie ersetzen. Aber auch wieder in seiner besonderen pbo_127.014
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trocken und langweilig wirken. Diesen Jrrtümern der „malenden pbo_127.019
Dichter“ seiner Zeit ist Lessings Laokoon*) entgegengetreten.

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§ 87. Nationalepos.

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Der Vorwurf des Epos sind eben auch wie beim Drama pbo_127.022
Handlungen, nur daß getreu dem veränderten Standpunkte pbo_127.023
des Dichters das Schwergewicht weit mehr auf die Begebenheiten pbo_127.024
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Epos mehr von den Begebenheiten getragen, als daß er sich pbo_127.027
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/131>, abgerufen am 30.04.2024.