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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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jede Möglichkeit, seine Hörer oder Leser an sich zu fesseln, pbo_126.002
immer neu anzuregen, willkommen heißen. Daher empfiehlt pbo_126.003
gleich für die Exposition Horaz dem Epiker, sich nicht umständlich pbo_126.004
und peinlich an den zeitlichen Hergang seiner Geschichte pbo_126.005
zu halten, sondern den Leser gleich mitten in die pbo_126.006
Begebenheiten (in medias res) einzuführen, da die epische pbo_126.007
Form leicht das Nachholen jeder für die Erzählung wichtigen pbo_126.008
Vorbegebenheit auch später an geeigneter Stelle verstattet. pbo_126.009
Es ist Pflicht des epischen Dichters, die Scenerie, die äußeren pbo_126.010
Umstände seiner Vorgänge lebhaft zu verdeutlichen, die Einzelheiten pbo_126.011
im Auftreten der Personen immer wieder neu zu berühren*), pbo_126.012
nie zu vergessen, daß einzig er es ist, der alles vor pbo_126.013
die Phantasie zu bringen hat. Aus dieser Einzigkeit seiner pbo_126.014
poetischen Vermittlung nimmt er nun aber auch das Recht, pbo_126.015
alles gleichsam in seine Sphäre zu ziehen, eine Einheit des pbo_126.016
Tones über alle Vorgänge, ja auch über die Reden der verschiedenen pbo_126.017
Persönlichkeiten auszubreiten, die der ausschließlichen pbo_126.018
Charakterisierung im Drama geradezu entgegengesetzt ist. Ganz pbo_126.019
besonders eignet diesem epischen Stile die Fähigkeit, auch pbo_126.020
mitten in den Ausführungen der handelnden Personen ohne pbo_126.021
unmittelbare Rücksicht auf den Austrag ihrer Angelegenheiten pbo_126.022
bei den Sachen selbst behaglich zu verweilen, Gleichnisse auszuspinnen, pbo_126.023
wie wir das in der Lehre von den Tropen schon pbo_126.024
gesehen haben, Gedanken, Betrachtungen, Schilderungen einzuflechten, pbo_126.025
in denen der Dichter unter oder hinter seinen pbo_126.026
Personenen durchsichtig wird. Dies eben giebt dem epischen pbo_126.027
Stile jene eigenthümliche Ruhe und Friedsamkeit, die selbst pbo_126.028
schon der Effekt der höchsten poetischen Kunst ist und ihre

*) pbo_126.029
Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist pbo_126.030
komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade pbo_126.031
dadurch, vielleicht unbewußt, die leichte Orientierung in ihren vielfach zusammengesetzten, pbo_126.032
verwickelten und langen Geschichten.

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jede Möglichkeit, seine Hörer oder Leser an sich zu fesseln, pbo_126.002
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Umstände seiner Vorgänge lebhaft zu verdeutlichen, die Einzelheiten pbo_126.011
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die Phantasie zu bringen hat. Aus dieser Einzigkeit seiner pbo_126.014
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alles gleichsam in seine Sphäre zu ziehen, eine Einheit des pbo_126.016
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Persönlichkeiten auszubreiten, die der ausschließlichen pbo_126.018
Charakterisierung im Drama geradezu entgegengesetzt ist. Ganz pbo_126.019
besonders eignet diesem epischen Stile die Fähigkeit, auch pbo_126.020
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Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist pbo_126.030
komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade pbo_126.031
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/130>, abgerufen am 30.04.2024.