Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_126.001 *) pbo_126.029
Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist pbo_126.030 komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade pbo_126.031 dadurch, vielleicht unbewußt, die leichte Orientierung in ihren vielfach zusammengesetzten, pbo_126.032 verwickelten und langen Geschichten. pbo_126.001 *) pbo_126.029
Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist pbo_126.030 komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade pbo_126.031 dadurch, vielleicht unbewußt, die leichte Orientierung in ihren vielfach zusammengesetzten, pbo_126.032 verwickelten und langen Geschichten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0130" n="126"/><lb n="pbo_126.001"/> jede Möglichkeit, seine Hörer oder Leser an sich zu fesseln, <lb n="pbo_126.002"/> immer neu anzuregen, willkommen heißen. Daher empfiehlt <lb n="pbo_126.003"/> gleich für die Exposition Horaz dem Epiker, sich nicht umständlich <lb n="pbo_126.004"/> und peinlich an den zeitlichen Hergang seiner Geschichte <lb n="pbo_126.005"/> zu halten, sondern den Leser gleich mitten in die <lb n="pbo_126.006"/> Begebenheiten (in medias res) einzuführen, da die epische <lb n="pbo_126.007"/> Form leicht das Nachholen jeder für die Erzählung wichtigen <lb n="pbo_126.008"/> Vorbegebenheit auch später an geeigneter Stelle verstattet. <lb n="pbo_126.009"/> Es ist Pflicht des epischen Dichters, die Scenerie, die äußeren <lb n="pbo_126.010"/> Umstände seiner Vorgänge lebhaft zu verdeutlichen, die Einzelheiten <lb n="pbo_126.011"/> im Auftreten der Personen immer wieder neu zu berühren<note corresp="PBO_126_*" place="foot" n="*)"><lb n="pbo_126.029"/> Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist <lb n="pbo_126.030"/> komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade <lb n="pbo_126.031"/> dadurch, vielleicht unbewußt, die leichte Orientierung in ihren vielfach zusammengesetzten, <lb n="pbo_126.032"/> verwickelten und langen Geschichten.</note>, <lb n="pbo_126.012"/> nie zu vergessen, daß einzig er es ist, der alles vor <lb n="pbo_126.013"/> die Phantasie zu bringen hat. Aus dieser Einzigkeit seiner <lb n="pbo_126.014"/> poetischen Vermittlung nimmt er nun aber auch das Recht, <lb n="pbo_126.015"/> alles gleichsam in seine Sphäre zu ziehen, eine Einheit des <lb n="pbo_126.016"/> Tones über alle Vorgänge, ja auch über die Reden der verschiedenen <lb n="pbo_126.017"/> Persönlichkeiten auszubreiten, die der ausschließlichen <lb n="pbo_126.018"/> Charakterisierung im Drama geradezu entgegengesetzt ist. Ganz <lb n="pbo_126.019"/> besonders eignet diesem <hi rendition="#g">epischen Stile</hi> die Fähigkeit, auch <lb n="pbo_126.020"/> mitten in den Ausführungen der handelnden Personen ohne <lb n="pbo_126.021"/> unmittelbare Rücksicht auf den Austrag ihrer Angelegenheiten <lb n="pbo_126.022"/> bei den Sachen selbst behaglich zu verweilen, Gleichnisse auszuspinnen, <lb n="pbo_126.023"/> wie wir das in der Lehre von den Tropen schon <lb n="pbo_126.024"/> gesehen haben, Gedanken, Betrachtungen, Schilderungen einzuflechten, <lb n="pbo_126.025"/> in denen der Dichter unter oder hinter seinen <lb n="pbo_126.026"/> Personenen durchsichtig wird. Dies eben giebt dem epischen <lb n="pbo_126.027"/> Stile jene eigenthümliche Ruhe und Friedsamkeit, die selbst <lb n="pbo_126.028"/> schon der Effekt der höchsten poetischen Kunst ist und ihre </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0130]
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jede Möglichkeit, seine Hörer oder Leser an sich zu fesseln, pbo_126.002
immer neu anzuregen, willkommen heißen. Daher empfiehlt pbo_126.003
gleich für die Exposition Horaz dem Epiker, sich nicht umständlich pbo_126.004
und peinlich an den zeitlichen Hergang seiner Geschichte pbo_126.005
zu halten, sondern den Leser gleich mitten in die pbo_126.006
Begebenheiten (in medias res) einzuführen, da die epische pbo_126.007
Form leicht das Nachholen jeder für die Erzählung wichtigen pbo_126.008
Vorbegebenheit auch später an geeigneter Stelle verstattet. pbo_126.009
Es ist Pflicht des epischen Dichters, die Scenerie, die äußeren pbo_126.010
Umstände seiner Vorgänge lebhaft zu verdeutlichen, die Einzelheiten pbo_126.011
im Auftreten der Personen immer wieder neu zu berühren *), pbo_126.012
nie zu vergessen, daß einzig er es ist, der alles vor pbo_126.013
die Phantasie zu bringen hat. Aus dieser Einzigkeit seiner pbo_126.014
poetischen Vermittlung nimmt er nun aber auch das Recht, pbo_126.015
alles gleichsam in seine Sphäre zu ziehen, eine Einheit des pbo_126.016
Tones über alle Vorgänge, ja auch über die Reden der verschiedenen pbo_126.017
Persönlichkeiten auszubreiten, die der ausschließlichen pbo_126.018
Charakterisierung im Drama geradezu entgegengesetzt ist. Ganz pbo_126.019
besonders eignet diesem epischen Stile die Fähigkeit, auch pbo_126.020
mitten in den Ausführungen der handelnden Personen ohne pbo_126.021
unmittelbare Rücksicht auf den Austrag ihrer Angelegenheiten pbo_126.022
bei den Sachen selbst behaglich zu verweilen, Gleichnisse auszuspinnen, pbo_126.023
wie wir das in der Lehre von den Tropen schon pbo_126.024
gesehen haben, Gedanken, Betrachtungen, Schilderungen einzuflechten, pbo_126.025
in denen der Dichter unter oder hinter seinen pbo_126.026
Personenen durchsichtig wird. Dies eben giebt dem epischen pbo_126.027
Stile jene eigenthümliche Ruhe und Friedsamkeit, die selbst pbo_126.028
schon der Effekt der höchsten poetischen Kunst ist und ihre
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Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist pbo_126.030
komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade pbo_126.031
dadurch, vielleicht unbewußt, die leichte Orientierung in ihren vielfach zusammengesetzten, pbo_126.032
verwickelten und langen Geschichten.
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