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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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die Jdylle (richtiger: das Jdyll eidullion Bildchen), pbo_125.002
die, wie ihr Name besagt, ein ruhendes, daher meist einfaches pbo_125.003
(ländliches) Bild aus der bewegten Folge epischer pbo_125.004
Begebenheit herausnimmt und in seinen besonderen (oft dialogisch pbo_125.005
gehaltenen) Rahmen stellt.*) Die Eingangs erörterte pbo_125.006
Theorie von der Entstehung des Volksepos aus Einzelgesängen pbo_125.007
(romance heißt eigentlich Gesang in der romanischen pbo_125.008
Volkssprache) stützt sich in Rücksicht auf die Poetik wesentlich pbo_125.009
auf die Freiheit des Epikers und wäre für das Drama unmöglich. pbo_125.010
Der epische Dichter schließt auch im Altertum als pbo_125.011
Vortragender seine Rhapsodie (wörtlich "abgerissenes Stück pbo_125.012
Gesang"), wann es ihm paßt, und der moderne Leser kann pbo_125.013
sein Buch aus der Hand legen, wann er mag oder ihn ein pbo_125.014
Geschäft abruft, beide, um zur beliebigen Zeit wieder an der pbo_125.015
Stelle fortzufahren, wo sie aufgehört haben. Aeußere, kenntliche pbo_125.016
Abschnitte, die sich zugleich als Pausen für das pbo_125.017
Ruhebedürfnis ankündigen, dienen hier weit mehr der bloßen pbo_125.018
Uebersicht, als inneren Gesetzen der Konstruktion, die höchstens pbo_125.019
in ganz großen Partien ihre dem Drama analoge Entwicklung pbo_125.020
(Exposition, Peripetie, Katastrophe) durchscheinen läßt.

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§ 85. Epischer Stil.

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Diese Freiheiten sind dem epischen Dichter aus inneren pbo_125.023
Gründen seiner Form ebenso notwendig, als dem Dramatiker pbo_125.024
die Beobachtung seiner strengeren Regeln. Er, der nicht die pbo_125.025
Lebendigkeit der dramatischen Verkörperung, die Thatsächlichkeit pbo_125.026
der scenischen Aufführung für sich hat, wird jedes Mittel,

*) pbo_125.027
Ein in neuerer Zeit seltenes Muster im Geiste der antiken Jdyllendichtung pbo_125.028
(Theokrit) bietet Mörike, dessen wesentliche Sphäre diese Dichtungsart pbo_125.029
bezeichnet, in seiner "Jdylle vom Bodensee" in 7 Gesängen pbo_125.030
(Ed. Mörikes Gesamm. Schr. Stuttg. 1884. Bd. I, S. 325 ff.). Hierbei ist pbo_125.031
grade im obigen Sinne das eigentümliche Rahmenbild (Martin und die Glockendiebe) pbo_125.032
zu beachten.

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Volkssprache) stützt sich in Rücksicht auf die Poetik wesentlich pbo_125.009
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Der epische Dichter schließt auch im Altertum als pbo_125.011
Vortragender seine Rhapsodie (wörtlich „abgerissenes Stück pbo_125.012
Gesang“), wann es ihm paßt, und der moderne Leser kann pbo_125.013
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Ruhebedürfnis ankündigen, dienen hier weit mehr der bloßen pbo_125.018
Uebersicht, als inneren Gesetzen der Konstruktion, die höchstens pbo_125.019
in ganz großen Partien ihre dem Drama analoge Entwicklung pbo_125.020
(Exposition, Peripetie, Katastrophe) durchscheinen läßt.

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§ 85. Epischer Stil.

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Lebendigkeit der dramatischen Verkörperung, die Thatsächlichkeit pbo_125.026
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Ein in neuerer Zeit seltenes Muster im Geiste der antiken Jdyllendichtung pbo_125.028
(Theokrit) bietet Mörike, dessen wesentliche Sphäre diese Dichtungsart pbo_125.029
bezeichnet, in seiner „Jdylle vom Bodensee“ in 7 Gesängen pbo_125.030
(Ed. Mörikes Gesamm. Schr. Stuttg. 1884. Bd. I, S. 325 ff.). Hierbei ist pbo_125.031
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[125/0129] pbo_125.001 die Jdylle (richtiger: das Jdyll εἰδύλλιον Bildchen), pbo_125.002 die, wie ihr Name besagt, ein ruhendes, daher meist einfaches pbo_125.003 (ländliches) Bild aus der bewegten Folge epischer pbo_125.004 Begebenheit herausnimmt und in seinen besonderen (oft dialogisch pbo_125.005 gehaltenen) Rahmen stellt. *) Die Eingangs erörterte pbo_125.006 Theorie von der Entstehung des Volksepos aus Einzelgesängen pbo_125.007 (romance heißt eigentlich Gesang in der romanischen pbo_125.008 Volkssprache) stützt sich in Rücksicht auf die Poetik wesentlich pbo_125.009 auf die Freiheit des Epikers und wäre für das Drama unmöglich. pbo_125.010 Der epische Dichter schließt auch im Altertum als pbo_125.011 Vortragender seine Rhapsodie (wörtlich „abgerissenes Stück pbo_125.012 Gesang“), wann es ihm paßt, und der moderne Leser kann pbo_125.013 sein Buch aus der Hand legen, wann er mag oder ihn ein pbo_125.014 Geschäft abruft, beide, um zur beliebigen Zeit wieder an der pbo_125.015 Stelle fortzufahren, wo sie aufgehört haben. Aeußere, kenntliche pbo_125.016 Abschnitte, die sich zugleich als Pausen für das pbo_125.017 Ruhebedürfnis ankündigen, dienen hier weit mehr der bloßen pbo_125.018 Uebersicht, als inneren Gesetzen der Konstruktion, die höchstens pbo_125.019 in ganz großen Partien ihre dem Drama analoge Entwicklung pbo_125.020 (Exposition, Peripetie, Katastrophe) durchscheinen läßt. pbo_125.021 § 85. Epischer Stil. pbo_125.022 Diese Freiheiten sind dem epischen Dichter aus inneren pbo_125.023 Gründen seiner Form ebenso notwendig, als dem Dramatiker pbo_125.024 die Beobachtung seiner strengeren Regeln. Er, der nicht die pbo_125.025 Lebendigkeit der dramatischen Verkörperung, die Thatsächlichkeit pbo_125.026 der scenischen Aufführung für sich hat, wird jedes Mittel, *) pbo_125.027 Ein in neuerer Zeit seltenes Muster im Geiste der antiken Jdyllendichtung pbo_125.028 (Theokrit) bietet Mörike, dessen wesentliche Sphäre diese Dichtungsart pbo_125.029 bezeichnet, in seiner „Jdylle vom Bodensee“ in 7 Gesängen pbo_125.030 (Ed. Mörikes Gesamm. Schr. Stuttg. 1884. Bd. I, S. 325 ff.). Hierbei ist pbo_125.031 grade im obigen Sinne das eigentümliche Rahmenbild (Martin und die Glockendiebe) pbo_125.032 zu beachten.

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/129>, abgerufen am 24.11.2024.