nicht die Anmaßung des Widerspruchs herausfordern sollte. Nicht die Vernunft ist auf der Seite der Gleichheit, sondern auf der Seite der Ungleichheit ist der Wahnsinn. Aber der Vernunft ziemt es nicht, dem Wahnsinn entgegen zu treten, ihm den Weg zu versperren; sondern sie soll warten bis er herbei kömmt, bis er losbricht. Dann soll sie ihn bespre¬ chen, heilen, und wenn er sich unheilbar zeigt, ihn an die Kette legen und unschädlich machen. Jedes Wort, noch ferner gegen den Adel gesprochen, ist ein Schwertstreich dem Schlachtfelde entzogen; die Zeit des Redens ist vorüber.
Dritte Grundlehre. A chacun selon sa ca¬ pacite, a chaque capacite selon ses oeuvres. Eine heillose Irrlehre! Die Wahrheit ist ganz auf der entge¬ gengesetzten Seite. Jemehr Verdienst, je weni¬ ger Lohn; das ist die Regel der Vernunft. Verdienst ist die reine Vorausbezahlung, welche die Natur sol¬ chen Menschen leistet, denen sie vertraut, und der, dem sie geworden, hat keinen weitern Lohn zu for¬ dern. Bezahlung werde dem Verdienstlosen, der nichts von der Natur geerbt. "Jeder Capacität nach ihren Werken," ist auch falsch. Was der Mensch ist, bestimmt seinen Werth, und also seinen Preiß, nicht das, was er thut. Ist das, was er thut sei¬ ner Natur gemäß, ist es blos Lebensäußerung, Selbst¬ erhaltungstrieb, und er hat dafür keinen Lohn zu for¬
nicht die Anmaßung des Widerſpruchs herausfordern ſollte. Nicht die Vernunft iſt auf der Seite der Gleichheit, ſondern auf der Seite der Ungleichheit iſt der Wahnſinn. Aber der Vernunft ziemt es nicht, dem Wahnſinn entgegen zu treten, ihm den Weg zu verſperren; ſondern ſie ſoll warten bis er herbei kömmt, bis er losbricht. Dann ſoll ſie ihn beſpre¬ chen, heilen, und wenn er ſich unheilbar zeigt, ihn an die Kette legen und unſchädlich machen. Jedes Wort, noch ferner gegen den Adel geſprochen, iſt ein Schwertſtreich dem Schlachtfelde entzogen; die Zeit des Redens iſt vorüber.
Dritte Grundlehre. A chacun selon sa ca¬ pacité, à chaque capacité selon ses oeuvres. Eine heilloſe Irrlehre! Die Wahrheit iſt ganz auf der entge¬ gengeſetzten Seite. Jemehr Verdienſt, je weni¬ ger Lohn; das iſt die Regel der Vernunft. Verdienſt iſt die reine Vorausbezahlung, welche die Natur ſol¬ chen Menſchen leiſtet, denen ſie vertraut, und der, dem ſie geworden, hat keinen weitern Lohn zu for¬ dern. Bezahlung werde dem Verdienſtloſen, der nichts von der Natur geerbt. „Jeder Capacität nach ihren Werken,“ iſt auch falſch. Was der Menſch iſt, beſtimmt ſeinen Werth, und alſo ſeinen Preiß, nicht das, was er thut. Iſt das, was er thut ſei¬ ner Natur gemäß, iſt es blos Lebensäußerung, Selbſt¬ erhaltungstrieb, und er hat dafür keinen Lohn zu for¬
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nicht die Anmaßung des Widerſpruchs herausfordern
ſollte. Nicht die Vernunft iſt auf der Seite der
Gleichheit, ſondern auf der Seite der Ungleichheit iſt
der Wahnſinn. Aber der Vernunft ziemt es nicht,
dem Wahnſinn entgegen zu treten, ihm den Weg zu
verſperren; ſondern ſie ſoll warten bis er herbei
kömmt, bis er losbricht. Dann ſoll ſie ihn beſpre¬
chen, heilen, und wenn er ſich unheilbar zeigt, ihn
an die Kette legen und unſchädlich machen. Jedes
Wort, noch ferner gegen den Adel geſprochen, iſt ein
Schwertſtreich dem Schlachtfelde entzogen; die Zeit
des Redens iſt vorüber.
Dritte Grundlehre. A chacun selon sa ca¬
pacité, à chaque capacité selon ses oeuvres. Eine
heilloſe Irrlehre! Die Wahrheit iſt ganz auf der entge¬
gengeſetzten Seite. Jemehr Verdienſt, je weni¬
ger Lohn; das iſt die Regel der Vernunft. Verdienſt
iſt die reine Vorausbezahlung, welche die Natur ſol¬
chen Menſchen leiſtet, denen ſie vertraut, und der,
dem ſie geworden, hat keinen weitern Lohn zu for¬
dern. Bezahlung werde dem Verdienſtloſen, der nichts
von der Natur geerbt. „Jeder Capacität nach
ihren Werken,“ iſt auch falſch. Was der Menſch
iſt, beſtimmt ſeinen Werth, und alſo ſeinen Preiß,
nicht das, was er thut. Iſt das, was er thut ſei¬
ner Natur gemäß, iſt es blos Lebensäußerung, Selbſt¬
erhaltungstrieb, und er hat dafür keinen Lohn zu for¬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/32>, abgerufen am 17.07.2024.
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