wartet sie den Baron von Saintval, den ihr bestimmten Gatten, um sich mit ihm zu ver¬ loben. Der Baron ist vierzig Jahre alt, und ist nicht blos ein untadelhafter Mann, sondern auch ein Mann von den angenehmsten und schätzenswerthsten Eigenschaften. Die Gräfin erkennt seinen Werth, aber sie fühlt keine Lie¬ be für ihn. Sie liebt nicht einen andern, sie hat nie geliebt. Doch sie hat eine tiefe Ab¬ neigung gegen die Ehe, und nur um ihren Vater vor Verarmung zu schützen, in die ihn ein erlittener Unglücksfall zu stürzen droht, reicht sie dem reichen Baron die Hand. Es ist aber hier keiner von den gemeinen Händeln, wo ein pflichtvergessener Vater das Glück und die Seligkeit seines Kindes seiner eigenen Be¬ haglichkeit aufopfert und wo ein unerfahrnes, pflichtmißdeutendes Kind ein solches Opfer bringt; sondern es findet ein edleres Verhält¬ niß statt. Graf Clairville hatte im Jahre 1814,
III. 19
wartet ſie den Baron von Saintval, den ihr beſtimmten Gatten, um ſich mit ihm zu ver¬ loben. Der Baron iſt vierzig Jahre alt, und iſt nicht blos ein untadelhafter Mann, ſondern auch ein Mann von den angenehmſten und ſchaͤtzenswerthſten Eigenſchaften. Die Graͤfin erkennt ſeinen Werth, aber ſie fuͤhlt keine Lie¬ be fuͤr ihn. Sie liebt nicht einen andern, ſie hat nie geliebt. Doch ſie hat eine tiefe Ab¬ neigung gegen die Ehe, und nur um ihren Vater vor Verarmung zu ſchuͤtzen, in die ihn ein erlittener Ungluͤcksfall zu ſtuͤrzen droht, reicht ſie dem reichen Baron die Hand. Es iſt aber hier keiner von den gemeinen Haͤndeln, wo ein pflichtvergeſſener Vater das Gluͤck und die Seligkeit ſeines Kindes ſeiner eigenen Be¬ haglichkeit aufopfert und wo ein unerfahrnes, pflichtmißdeutendes Kind ein ſolches Opfer bringt; ſondern es findet ein edleres Verhaͤlt¬ niß ſtatt. Graf Clairville hatte im Jahre 1814,
III. 19
<TEI><text><body><divn="1"><div><p><pbfacs="#f0303"n="289"/>
wartet ſie den Baron von Saintval, den ihr<lb/>
beſtimmten Gatten, um ſich mit ihm zu ver¬<lb/>
loben. Der Baron iſt vierzig Jahre alt, und<lb/>
iſt nicht blos ein untadelhafter Mann, ſondern<lb/>
auch ein Mann von den angenehmſten und<lb/>ſchaͤtzenswerthſten Eigenſchaften. Die Graͤfin<lb/>
erkennt ſeinen Werth, aber ſie fuͤhlt keine Lie¬<lb/>
be fuͤr ihn. Sie liebt nicht einen andern, ſie<lb/>
hat nie geliebt. Doch ſie hat eine tiefe Ab¬<lb/>
neigung gegen die Ehe, und nur um ihren<lb/>
Vater vor Verarmung zu ſchuͤtzen, in die ihn<lb/>
ein erlittener Ungluͤcksfall zu ſtuͤrzen droht,<lb/>
reicht ſie dem reichen Baron die Hand. Es<lb/>
iſt aber hier keiner von den gemeinen Haͤndeln,<lb/>
wo ein pflichtvergeſſener Vater das Gluͤck und<lb/>
die Seligkeit ſeines Kindes ſeiner eigenen Be¬<lb/>
haglichkeit aufopfert und wo ein unerfahrnes,<lb/>
pflichtmißdeutendes Kind ein ſolches Opfer<lb/>
bringt; ſondern es findet ein edleres Verhaͤlt¬<lb/>
niß ſtatt. Graf Clairville hatte im Jahre 1814,<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">III</hi>. 19<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[289/0303]
wartet ſie den Baron von Saintval, den ihr
beſtimmten Gatten, um ſich mit ihm zu ver¬
loben. Der Baron iſt vierzig Jahre alt, und
iſt nicht blos ein untadelhafter Mann, ſondern
auch ein Mann von den angenehmſten und
ſchaͤtzenswerthſten Eigenſchaften. Die Graͤfin
erkennt ſeinen Werth, aber ſie fuͤhlt keine Lie¬
be fuͤr ihn. Sie liebt nicht einen andern, ſie
hat nie geliebt. Doch ſie hat eine tiefe Ab¬
neigung gegen die Ehe, und nur um ihren
Vater vor Verarmung zu ſchuͤtzen, in die ihn
ein erlittener Ungluͤcksfall zu ſtuͤrzen droht,
reicht ſie dem reichen Baron die Hand. Es
iſt aber hier keiner von den gemeinen Haͤndeln,
wo ein pflichtvergeſſener Vater das Gluͤck und
die Seligkeit ſeines Kindes ſeiner eigenen Be¬
haglichkeit aufopfert und wo ein unerfahrnes,
pflichtmißdeutendes Kind ein ſolches Opfer
bringt; ſondern es findet ein edleres Verhaͤlt¬
niß ſtatt. Graf Clairville hatte im Jahre 1814,
III. 19
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833/303>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.