stellen. Wenn jeder Machthaber, sobald er zum Besitze der Macht gelangt, gleich seine Leidenschaft zur Regel erhebt, grausame Strafen für jeden Wi¬ derspruch voraus bestimmt, und diese Regel, diese Anwendung sich herabrollt durch Jahrhunderte -- nennen sie das Gesetzlichkeit. Das Volk hat seine Leidenschaft nie zum Gesetz erhoben, die Ge¬ genwart erbte nie die Missethaten der Vergangenheit, sie vermehrt der Zukunft zu überlassen. Wenn dumme, feige oder bestochene Richter aus altem Herkommen und verblichenen Gesetzen nachweisen können, daß sie in gleichen Fällen immer gleich ungerecht gewesen -- nennen sie das Gerechtigkeit. Wenn der schuldlos Verurtheilte, durch Reihen schön geputzter Soldaten, durch die Mitte des angstzitternden Volkes, das nicht zu weinen, nicht zu athmen wagt, ohne Laut und Störung zum Blutgerüste geführt wird -- nennen sie das Ordnung; und schnellen Tod in langsame Qual des Kerkers verwandeln -- das nennen sie Milde.
-- Ich eilte die Terrasse hinauf, von wo man in die elysäischen Felder herabsieht. Dort setzte ich mich auf einen Traumstuhl und meine Gedanken¬ mühle, die wegen Frost oder Dürre so lange still gestanden, fing gleich lustig zu klappern an. Welch ein Platz ist das! Es ist eine Landstraße der Zeit, ein Markt der Geschichte, wo die Wege der Ver¬
ſtellen. Wenn jeder Machthaber, ſobald er zum Beſitze der Macht gelangt, gleich ſeine Leidenſchaft zur Regel erhebt, grauſame Strafen für jeden Wi¬ derſpruch voraus beſtimmt, und dieſe Regel, dieſe Anwendung ſich herabrollt durch Jahrhunderte — nennen ſie das Geſetzlichkeit. Das Volk hat ſeine Leidenſchaft nie zum Geſetz erhoben, die Ge¬ genwart erbte nie die Miſſethaten der Vergangenheit, ſie vermehrt der Zukunft zu überlaſſen. Wenn dumme, feige oder beſtochene Richter aus altem Herkommen und verblichenen Geſetzen nachweiſen können, daß ſie in gleichen Fällen immer gleich ungerecht geweſen — nennen ſie das Gerechtigkeit. Wenn der ſchuldlos Verurtheilte, durch Reihen ſchön geputzter Soldaten, durch die Mitte des angſtzitternden Volkes, das nicht zu weinen, nicht zu athmen wagt, ohne Laut und Störung zum Blutgerüſte geführt wird — nennen ſie das Ordnung; und ſchnellen Tod in langſame Qual des Kerkers verwandeln — das nennen ſie Milde.
— Ich eilte die Terraſſe hinauf, von wo man in die elyſäiſchen Felder herabſieht. Dort ſetzte ich mich auf einen Traumſtuhl und meine Gedanken¬ mühle, die wegen Froſt oder Dürre ſo lange ſtill geſtanden, fing gleich luſtig zu klappern an. Welch ein Platz iſt das! Es iſt eine Landſtraße der Zeit, ein Markt der Geſchichte, wo die Wege der Ver¬
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ſtellen. Wenn jeder Machthaber, ſobald er zum
Beſitze der Macht gelangt, gleich ſeine Leidenſchaft
zur Regel erhebt, grauſame Strafen für jeden Wi¬
derſpruch voraus beſtimmt, und dieſe Regel, dieſe
Anwendung ſich herabrollt durch Jahrhunderte —
nennen ſie das Geſetzlichkeit. Das Volk hat
ſeine Leidenſchaft nie zum Geſetz erhoben, die Ge¬
genwart erbte nie die Miſſethaten der Vergangenheit,
ſie vermehrt der Zukunft zu überlaſſen. Wenn dumme,
feige oder beſtochene Richter aus altem Herkommen
und verblichenen Geſetzen nachweiſen können, daß
ſie in gleichen Fällen immer gleich ungerecht geweſen
— nennen ſie das Gerechtigkeit. Wenn der
ſchuldlos Verurtheilte, durch Reihen ſchön geputzter
Soldaten, durch die Mitte des angſtzitternden Volkes,
das nicht zu weinen, nicht zu athmen wagt, ohne
Laut und Störung zum Blutgerüſte geführt wird —
nennen ſie das Ordnung; und ſchnellen Tod in
langſame Qual des Kerkers verwandeln — das
nennen ſie Milde.
— Ich eilte die Terraſſe hinauf, von wo man
in die elyſäiſchen Felder herabſieht. Dort ſetzte ich
mich auf einen Traumſtuhl und meine Gedanken¬
mühle, die wegen Froſt oder Dürre ſo lange ſtill
geſtanden, fing gleich luſtig zu klappern an. Welch
ein Platz iſt das! Es iſt eine Landſtraße der Zeit,
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/56>, abgerufen am 18.06.2024.
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