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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

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gangenheit, Gegenwart und Zukunft sich durchkreuzen.
Da unten steht jetzt ein Marmor-Piedestal, auf
welches man die Bildsäule, ich glaube Ludwig des
Sechzehnten, hat stellen wollen. Die dreifarbige
Fahne weht darüber. Es ist noch nicht lange, daß
Karl X. mit großer Feierlichkeit den Grundstein dazu
gelegt. Die Könige sollten sich doch nicht lächerlich
machen und noch ferner den Grundstein zu einem
Gebäude legen. Sie thäten besser, den letzten Ziegel
auf dem Dache anzunageln; die Vergangenheit raubt
ihnen Keiner. Wahrlich, die Zeit wird kommen,
wo die fürstlichen Köche, wenn sie Morgens vor
ihren Töpfen stehen, einander fragen werden: wem
decken wir das wohl Mittags? und in ihrer philo¬
sophischen Zerstreuung manche Schüssel verfehlen
werden. ... Was kam mir da oben nicht alles in
den Sinn. Sogar fiel mir ein, woran ich seit
zwanzig Jahren nicht gedacht: daß ich vor zwanzig
Jahren in Wien gewesen. Es war ein schöner Tag
wie heute, nur ein schönerer, denn es war am ersten
Mai. Ich war im Augarten, welcher schöner ist
als die Tuilerien. Die Volksmenge dort war groß
und festlich ausgebreitet, wie die hier. Doch heute
bin ich alt und damals war ich jung. Meine Phan¬
tasie lief umher wie ein junger Pudel, und sie war
noch gar nicht dressirt; sie hatte noch nie etwas dem
Morgenblatte oder sonst einem Zeitblatte apportirt.

gangenheit, Gegenwart und Zukunft ſich durchkreuzen.
Da unten ſteht jetzt ein Marmor-Piedeſtal, auf
welches man die Bildſäule, ich glaube Ludwig des
Sechzehnten, hat ſtellen wollen. Die dreifarbige
Fahne weht darüber. Es iſt noch nicht lange, daß
Karl X. mit großer Feierlichkeit den Grundſtein dazu
gelegt. Die Könige ſollten ſich doch nicht lächerlich
machen und noch ferner den Grundſtein zu einem
Gebäude legen. Sie thäten beſſer, den letzten Ziegel
auf dem Dache anzunageln; die Vergangenheit raubt
ihnen Keiner. Wahrlich, die Zeit wird kommen,
wo die fürſtlichen Köche, wenn ſie Morgens vor
ihren Töpfen ſtehen, einander fragen werden: wem
decken wir das wohl Mittags? und in ihrer philo¬
ſophiſchen Zerſtreuung manche Schüſſel verfehlen
werden. ... Was kam mir da oben nicht alles in
den Sinn. Sogar fiel mir ein, woran ich ſeit
zwanzig Jahren nicht gedacht: daß ich vor zwanzig
Jahren in Wien geweſen. Es war ein ſchöner Tag
wie heute, nur ein ſchönerer, denn es war am erſten
Mai. Ich war im Augarten, welcher ſchöner iſt
als die Tuilerien. Die Volksmenge dort war groß
und feſtlich ausgebreitet, wie die hier. Doch heute
bin ich alt und damals war ich jung. Meine Phan¬
taſie lief umher wie ein junger Pudel, und ſie war
noch gar nicht dreſſirt; ſie hatte noch nie etwas dem
Morgenblatte oder ſonſt einem Zeitblatte apportirt.

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[43/0057] gangenheit, Gegenwart und Zukunft ſich durchkreuzen. Da unten ſteht jetzt ein Marmor-Piedeſtal, auf welches man die Bildſäule, ich glaube Ludwig des Sechzehnten, hat ſtellen wollen. Die dreifarbige Fahne weht darüber. Es iſt noch nicht lange, daß Karl X. mit großer Feierlichkeit den Grundſtein dazu gelegt. Die Könige ſollten ſich doch nicht lächerlich machen und noch ferner den Grundſtein zu einem Gebäude legen. Sie thäten beſſer, den letzten Ziegel auf dem Dache anzunageln; die Vergangenheit raubt ihnen Keiner. Wahrlich, die Zeit wird kommen, wo die fürſtlichen Köche, wenn ſie Morgens vor ihren Töpfen ſtehen, einander fragen werden: wem decken wir das wohl Mittags? und in ihrer philo¬ ſophiſchen Zerſtreuung manche Schüſſel verfehlen werden. ... Was kam mir da oben nicht alles in den Sinn. Sogar fiel mir ein, woran ich ſeit zwanzig Jahren nicht gedacht: daß ich vor zwanzig Jahren in Wien geweſen. Es war ein ſchöner Tag wie heute, nur ein ſchönerer, denn es war am erſten Mai. Ich war im Augarten, welcher ſchöner iſt als die Tuilerien. Die Volksmenge dort war groß und feſtlich ausgebreitet, wie die hier. Doch heute bin ich alt und damals war ich jung. Meine Phan¬ taſie lief umher wie ein junger Pudel, und ſie war noch gar nicht dreſſirt; ſie hatte noch nie etwas dem Morgenblatte oder ſonſt einem Zeitblatte apportirt.

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/57>, abgerufen am 17.05.2024.