sie auch etwas lernen. Die Sontag war mir ganz zuwider, wegen der mir verhaßten Anbetung, die sie in Deutschland gefunden hat. Dort haben sie eine hohe Obrigkeit aus ihr gemacht, und man weiß doch, was das heißt -- eine hohe Obrigkeit ist dem Deutschen eine höchste Gottheit. Hier ist das ganz anders. Sie haben es früher selbst gesehen, welcher Aufregung die Franzosen im Theater fähig sind. Es ist nicht blos wie bei den Deutschen ein Toben mit dem Körper, ein Klatschen, ein Schreien, es ist ein inneres Kochen, ein Seelensturm, der nicht mehr zurückgehalten werden kann, und endlich losbricht. Aber wenn der Vorhang fällt, ist alles aus. Man verehrt keine Sängerin wie eine Königin, man betet sie nicht wie eine Heilige an. In keiner Gesellschaft hier werden Sie je vom Theater sprechen hören, in Berlin nie ein Wort von etwas Anderm. -- Die italienische Oper hier mögen viele Kenner, wenigstens viele geübte Dilettanten besuchen. Man merkt die¬ ses bei der Aufführung bald an der Sicherheit und Bestimmtheit des Urtheils. Manchmal brach ein Beifallsgemurmel aus, manchmal that sich ein ta¬ delndes Stillschweigen kund, ohne daß ich entdeckte, was die Veranlassung zu diesem und jenem war. Und diese entscheidenden Kenner schienen mir sehr streng zu seyn. Im Orchester (was man hier so nennt, die ersten Reihen der Parterre-Sitze) bemerkte
ſie auch etwas lernen. Die Sontag war mir ganz zuwider, wegen der mir verhaßten Anbetung, die ſie in Deutſchland gefunden hat. Dort haben ſie eine hohe Obrigkeit aus ihr gemacht, und man weiß doch, was das heißt — eine hohe Obrigkeit iſt dem Deutſchen eine höchſte Gottheit. Hier iſt das ganz anders. Sie haben es früher ſelbſt geſehen, welcher Aufregung die Franzoſen im Theater fähig ſind. Es iſt nicht blos wie bei den Deutſchen ein Toben mit dem Körper, ein Klatſchen, ein Schreien, es iſt ein inneres Kochen, ein Seelenſturm, der nicht mehr zurückgehalten werden kann, und endlich losbricht. Aber wenn der Vorhang fällt, iſt alles aus. Man verehrt keine Sängerin wie eine Königin, man betet ſie nicht wie eine Heilige an. In keiner Geſellſchaft hier werden Sie je vom Theater ſprechen hören, in Berlin nie ein Wort von etwas Anderm. — Die italieniſche Oper hier mögen viele Kenner, wenigſtens viele geübte Dilettanten beſuchen. Man merkt die¬ ſes bei der Aufführung bald an der Sicherheit und Beſtimmtheit des Urtheils. Manchmal brach ein Beifallsgemurmel aus, manchmal that ſich ein ta¬ delndes Stillſchweigen kund, ohne daß ich entdeckte, was die Veranlaſſung zu dieſem und jenem war. Und dieſe entſcheidenden Kenner ſchienen mir ſehr ſtreng zu ſeyn. Im Orcheſter (was man hier ſo nennt, die erſten Reihen der Parterre-Sitze) bemerkte
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ſie auch etwas lernen. Die Sontag war mir ganz
zuwider, wegen der mir verhaßten Anbetung, die ſie
in Deutſchland gefunden hat. Dort haben ſie eine
hohe Obrigkeit aus ihr gemacht, und man weiß doch,
was das heißt — eine hohe Obrigkeit iſt dem
Deutſchen eine höchſte Gottheit. Hier iſt das ganz
anders. Sie haben es früher ſelbſt geſehen, welcher
Aufregung die Franzoſen im Theater fähig ſind.
Es iſt nicht blos wie bei den Deutſchen ein Toben
mit dem Körper, ein Klatſchen, ein Schreien, es iſt
ein inneres Kochen, ein Seelenſturm, der nicht mehr
zurückgehalten werden kann, und endlich losbricht.
Aber wenn der Vorhang fällt, iſt alles aus. Man
verehrt keine Sängerin wie eine Königin, man betet
ſie nicht wie eine Heilige an. In keiner Geſellſchaft
hier werden Sie je vom Theater ſprechen hören, in
Berlin nie ein Wort von etwas Anderm. — Die
italieniſche Oper hier mögen viele Kenner, wenigſtens
viele geübte Dilettanten beſuchen. Man merkt die¬
ſes bei der Aufführung bald an der Sicherheit und
Beſtimmtheit des Urtheils. Manchmal brach ein
Beifallsgemurmel aus, manchmal that ſich ein ta¬
delndes Stillſchweigen kund, ohne daß ich entdeckte,
was die Veranlaſſung zu dieſem und jenem war.
Und dieſe entſcheidenden Kenner ſchienen mir ſehr
ſtreng zu ſeyn. Im Orcheſter (was man hier ſo
nennt, die erſten Reihen der Parterre-Sitze) bemerkte
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/234>, abgerufen am 28.07.2024.
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