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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Wir sind ja heute in unserem an sich berechtigten dar¬
winistischen Denken sehr geneigt, in's andere Extrem zu gehen.
Wenn der Anfangsmensch der Kultur kein gottgeleiteter Halb¬
engel war, so soll er nun der möglichst rabenschwarze Gorilla
sein, den man sich gar nicht bestial genug denken mag. Es
muß aber doch gerade die Eigenschaft dieses menschwerdenden
Tieres gewesen sein, daß es eben nicht zur Gorilla-Linie hielt,
sondern Mensch wurde. Mischt man Gorilla-Bestialität mit
allem, was sich an menschlich bestialischen Zügen bei Wilden,
in der Geschichte und in den Winkeln unserer Kultur aufdecken
läßt und häuft das alles auf den Urmenschen, so kommt ja
in der That ein Scheusal heraus, gegen das der Gorilla allein
ein sanfter Knabe ist. Aber ich fürchte, du bindest dir in
solchem Strauß lauter Abspaltungszweige deiner wahren Wachs¬
tumslinie zusammen und kommst so im Leben nicht auf dich,
so kraus auch der Busch wird. Mir liegt nichts ferner, als
mir wieder einen christlichen oder auch nur Rousseauschen
Ideal-Urmenschen zu konstruieren. Aber was ich meine ist
dieses. So lange die wilden Völker auf der Erde jetzt von
vernünftigen Beobachtern angeschaut werden, so lange ist auch
diesen Beobachtern aufgefallen: neben so und so viel bestialischen
Zügen findet sich doch immer durchschimmernd auch eine mindestens
ebenso große Schicht schöner, wenn auch blasser Züge im Sinne
dessen, was wir im edelsten Kulturstande so nennen. Die
Missionäre haben das in ihrer Weise sich ausgelegt als den
guten Kern Gottes in allem Menschlichen. Alfred Russel
Wallace hat es als das inkommensurable Teil im Menschen
beschrieben, das nicht aus der Bestie sich habe entwickeln können,
sondern zu irgend einer Zeit aus einer edleren Geisterwelt
spiritistisch in den Urmenschen eingefahren sein müsse. Gewiß
ist, daß ein Widerspruch da zuerst ins Unbegreifliche zu klaffen
scheint. Der Wilde, der jetzt seinen wehrlosen Feind mit einem
wahren Wahnsinnsraffinement zu Tode gemartert und auf¬
gefressen hat, setzt sich hin und schafft die zierlichsten Kunst¬

Wir ſind ja heute in unſerem an ſich berechtigten dar¬
winiſtiſchen Denken ſehr geneigt, in's andere Extrem zu gehen.
Wenn der Anfangsmenſch der Kultur kein gottgeleiteter Halb¬
engel war, ſo ſoll er nun der möglichſt rabenſchwarze Gorilla
ſein, den man ſich gar nicht beſtial genug denken mag. Es
muß aber doch gerade die Eigenſchaft dieſes menſchwerdenden
Tieres geweſen ſein, daß es eben nicht zur Gorilla-Linie hielt,
ſondern Menſch wurde. Miſcht man Gorilla-Beſtialität mit
allem, was ſich an menſchlich beſtialiſchen Zügen bei Wilden,
in der Geſchichte und in den Winkeln unſerer Kultur aufdecken
läßt und häuft das alles auf den Urmenſchen, ſo kommt ja
in der That ein Scheuſal heraus, gegen das der Gorilla allein
ein ſanfter Knabe iſt. Aber ich fürchte, du bindeſt dir in
ſolchem Strauß lauter Abſpaltungszweige deiner wahren Wachs¬
tumslinie zuſammen und kommſt ſo im Leben nicht auf dich,
ſo kraus auch der Buſch wird. Mir liegt nichts ferner, als
mir wieder einen chriſtlichen oder auch nur Rouſſeauſchen
Ideal-Urmenſchen zu konſtruieren. Aber was ich meine iſt
dieſes. So lange die wilden Völker auf der Erde jetzt von
vernünftigen Beobachtern angeſchaut werden, ſo lange iſt auch
dieſen Beobachtern aufgefallen: neben ſo und ſo viel beſtialiſchen
Zügen findet ſich doch immer durchſchimmernd auch eine mindeſtens
ebenſo große Schicht ſchöner, wenn auch blaſſer Züge im Sinne
deſſen, was wir im edelſten Kulturſtande ſo nennen. Die
Miſſionäre haben das in ihrer Weiſe ſich ausgelegt als den
guten Kern Gottes in allem Menſchlichen. Alfred Ruſſel
Wallace hat es als das inkommenſurable Teil im Menſchen
beſchrieben, das nicht aus der Beſtie ſich habe entwickeln können,
ſondern zu irgend einer Zeit aus einer edleren Geiſterwelt
ſpiritiſtiſch in den Urmenſchen eingefahren ſein müſſe. Gewiß
iſt, daß ein Widerſpruch da zuerſt ins Unbegreifliche zu klaffen
ſcheint. Der Wilde, der jetzt ſeinen wehrloſen Feind mit einem
wahren Wahnſinnsraffinement zu Tode gemartert und auf¬
gefreſſen hat, ſetzt ſich hin und ſchafft die zierlichſten Kunſt¬

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[84/0098] Wir ſind ja heute in unſerem an ſich berechtigten dar¬ winiſtiſchen Denken ſehr geneigt, in's andere Extrem zu gehen. Wenn der Anfangsmenſch der Kultur kein gottgeleiteter Halb¬ engel war, ſo ſoll er nun der möglichſt rabenſchwarze Gorilla ſein, den man ſich gar nicht beſtial genug denken mag. Es muß aber doch gerade die Eigenſchaft dieſes menſchwerdenden Tieres geweſen ſein, daß es eben nicht zur Gorilla-Linie hielt, ſondern Menſch wurde. Miſcht man Gorilla-Beſtialität mit allem, was ſich an menſchlich beſtialiſchen Zügen bei Wilden, in der Geſchichte und in den Winkeln unſerer Kultur aufdecken läßt und häuft das alles auf den Urmenſchen, ſo kommt ja in der That ein Scheuſal heraus, gegen das der Gorilla allein ein ſanfter Knabe iſt. Aber ich fürchte, du bindeſt dir in ſolchem Strauß lauter Abſpaltungszweige deiner wahren Wachs¬ tumslinie zuſammen und kommſt ſo im Leben nicht auf dich, ſo kraus auch der Buſch wird. Mir liegt nichts ferner, als mir wieder einen chriſtlichen oder auch nur Rouſſeauſchen Ideal-Urmenſchen zu konſtruieren. Aber was ich meine iſt dieſes. So lange die wilden Völker auf der Erde jetzt von vernünftigen Beobachtern angeſchaut werden, ſo lange iſt auch dieſen Beobachtern aufgefallen: neben ſo und ſo viel beſtialiſchen Zügen findet ſich doch immer durchſchimmernd auch eine mindeſtens ebenſo große Schicht ſchöner, wenn auch blaſſer Züge im Sinne deſſen, was wir im edelſten Kulturſtande ſo nennen. Die Miſſionäre haben das in ihrer Weiſe ſich ausgelegt als den guten Kern Gottes in allem Menſchlichen. Alfred Ruſſel Wallace hat es als das inkommenſurable Teil im Menſchen beſchrieben, das nicht aus der Beſtie ſich habe entwickeln können, ſondern zu irgend einer Zeit aus einer edleren Geiſterwelt ſpiritiſtiſch in den Urmenſchen eingefahren ſein müſſe. Gewiß iſt, daß ein Widerſpruch da zuerſt ins Unbegreifliche zu klaffen ſcheint. Der Wilde, der jetzt ſeinen wehrloſen Feind mit einem wahren Wahnſinnsraffinement zu Tode gemartert und auf¬ gefreſſen hat, ſetzt ſich hin und ſchafft die zierlichſten Kunſt¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/98>, abgerufen am 17.05.2024.