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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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ornamente. Das australische Ehepaar, das nach Stammes¬
brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der
geringfügigsten Bequemlichkeitsrücksicht für selbstverständlich hält,
liebt das erwachsende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des
humansten Kulturmenschen und beweint seinen natürlichen Tod
in den ergreifendsten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo,
der auf die "Kopfjagd" geht und abgeschlagene Köpfe beliebiger
ihm begegnender Menschen sammelt wie unsereiner Käfer oder
Briefmarken: er ist der treueste, hingebend rücksichtsvollste
Gastgeber, so bald einer einmal in sein Haus aufgenommen
ist und den Dunstkreis seiner Menschengefühle überhaupt be¬
rührt hat.

Warum aber zu metaphysischen Ungeheuerlichkeiten der
Hypothese greifen? Warum soll nicht jener "göttliche Kern",
jener "inkommensurable Teil" eben gerade das sein, was als
Erbe von der alten Zusammengehörigkeit mit dem Hauptstamme
der Menscheit auch in diesen abgezweigten Ästen unversehrt
noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt ist? Warum
sollen gerade diese Eigenschaften nicht summiert einst gewesen
sein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich
über das bestiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum
Menschen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerstreut
schon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der
Urmensch zu sein. Immer ist das Große, das scheinbar vom
Himmel Fallende solch ein Sammelpunkt gewesen. So hat
Goethe nur millionenfach verstreute Ansätze seiner Zeit, seiner
Menschheit zusammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann
allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging.

Wenn der Urmensch bloß bestialischer noch als der Gorilla
war, -- wie ist er dann Mensch geworden? Ich denke mir das
meiste des Guten, das der Wilde heute besitzt, das Beste
was das Tier schon gab und vielleicht noch ein Teil mehr,
(weil er doch eben der Kulturmensch geworden ist) in dem
wirklichen Urmenschen vereint. Wertvoll ist ja da, daß es

ornamente. Das auſtraliſche Ehepaar, das nach Stammes¬
brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der
geringfügigſten Bequemlichkeitsrückſicht für ſelbſtverſtändlich hält,
liebt das erwachſende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des
humanſten Kulturmenſchen und beweint ſeinen natürlichen Tod
in den ergreifendſten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo,
der auf die „Kopfjagd“ geht und abgeſchlagene Köpfe beliebiger
ihm begegnender Menſchen ſammelt wie unſereiner Käfer oder
Briefmarken: er iſt der treueſte, hingebend rückſichtsvollſte
Gaſtgeber, ſo bald einer einmal in ſein Haus aufgenommen
iſt und den Dunſtkreis ſeiner Menſchengefühle überhaupt be¬
rührt hat.

Warum aber zu metaphyſiſchen Ungeheuerlichkeiten der
Hypotheſe greifen? Warum ſoll nicht jener „göttliche Kern“,
jener „inkommenſurable Teil“ eben gerade das ſein, was als
Erbe von der alten Zuſammengehörigkeit mit dem Hauptſtamme
der Menſcheit auch in dieſen abgezweigten Äſten unverſehrt
noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt iſt? Warum
ſollen gerade dieſe Eigenſchaften nicht ſummiert einſt geweſen
ſein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich
über das beſtiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum
Menſchen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerſtreut
ſchon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der
Urmenſch zu ſein. Immer iſt das Große, das ſcheinbar vom
Himmel Fallende ſolch ein Sammelpunkt geweſen. So hat
Goethe nur millionenfach verſtreute Anſätze ſeiner Zeit, ſeiner
Menſchheit zuſammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann
allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging.

Wenn der Urmenſch bloß beſtialiſcher noch als der Gorilla
war, — wie iſt er dann Menſch geworden? Ich denke mir das
meiſte des Guten, das der Wilde heute beſitzt, das Beſte
was das Tier ſchon gab und vielleicht noch ein Teil mehr,
(weil er doch eben der Kulturmenſch geworden iſt) in dem
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[85/0099] ornamente. Das auſtraliſche Ehepaar, das nach Stammes¬ brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der geringfügigſten Bequemlichkeitsrückſicht für ſelbſtverſtändlich hält, liebt das erwachſende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des humanſten Kulturmenſchen und beweint ſeinen natürlichen Tod in den ergreifendſten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo, der auf die „Kopfjagd“ geht und abgeſchlagene Köpfe beliebiger ihm begegnender Menſchen ſammelt wie unſereiner Käfer oder Briefmarken: er iſt der treueſte, hingebend rückſichtsvollſte Gaſtgeber, ſo bald einer einmal in ſein Haus aufgenommen iſt und den Dunſtkreis ſeiner Menſchengefühle überhaupt be¬ rührt hat. Warum aber zu metaphyſiſchen Ungeheuerlichkeiten der Hypotheſe greifen? Warum ſoll nicht jener „göttliche Kern“, jener „inkommenſurable Teil“ eben gerade das ſein, was als Erbe von der alten Zuſammengehörigkeit mit dem Hauptſtamme der Menſcheit auch in dieſen abgezweigten Äſten unverſehrt noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt iſt? Warum ſollen gerade dieſe Eigenſchaften nicht ſummiert einſt geweſen ſein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich über das beſtiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum Menſchen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerſtreut ſchon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der Urmenſch zu ſein. Immer iſt das Große, das ſcheinbar vom Himmel Fallende ſolch ein Sammelpunkt geweſen. So hat Goethe nur millionenfach verſtreute Anſätze ſeiner Zeit, ſeiner Menſchheit zuſammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging. Wenn der Urmenſch bloß beſtialiſcher noch als der Gorilla war, — wie iſt er dann Menſch geworden? Ich denke mir das meiſte des Guten, das der Wilde heute beſitzt, das Beſte was das Tier ſchon gab und vielleicht noch ein Teil mehr, (weil er doch eben der Kulturmenſch geworden iſt) in dem wirklichen Urmenſchen vereint. Wertvoll iſt ja da, daß es

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/99>, abgerufen am 18.05.2024.