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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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tropischen Urwaldleben wenig ausgenutzt. Sollte uns in diesen
Pygmäen ein ganz urältestes Abspaltungsprodukt der Mensch¬
heit noch erhalten sein? Eines, das schon südwärts ging, als
die Enthaarung noch nicht ganz vollendet war? Und sollte
uns hier ein Fingerzeig am Ende gar gegeben sein, daß die
Urrasse der Menschheit im Ganzen einen mehr oder minder
zwerghaften Bau besaß? Es ist wirklich ein merkwürdiges
Ding um diese Zwerge. Am indischen Ozean taucht in den
Weddas ein ebenso zwerghafter Rest Menschen mit denkbar
einfachster, urtümlichster Kultur auf. Durch alle Kulturländer
gehen die Zwergensagen, wie das letzte Anklingen einer alten
Welle aus der Tiefe. Und den Gipfel setzt die Entdeckung
unverkennbarer Pygmäen-Skelette in einer noch vorgeschichtlichen,
der Eiszeit sich nähernden Fundstelle bei uns in Europa, --
in Schweizersbild bei Schaffhausen. Mindestens wird man
sich denken müssen, daß ganz früh bereits ein bestimmter
Rassenzweig der Ur-Menschheit diese Zwergenbahn eingeschlagen
hat und, wo er sich überhaupt erhielt, auch zäh bei seiner
Kleinheit geblieben ist.

Doch diese Betrachtung führt dich von selbst auf eine
tiefere: in wiefern wir uns überhaupt noch ein Bild aus dem
heute da und dort südwärts Verbannten zurecht zimmern könnten
vom Kulturzustand unserer Eiszeit- oder Voreiszeit-Ahnen.

[Abbildung]

Die alte Auffassung hatte es ja da bequemer, -- sie
sagte einfach: alles, was nackter Wilder ist, steht dem Tier
näher und muß also noch unsere Entwickelungsahnen an der
unteren Menschengrenze spiegeln. Wir bedenken aber jetzt, wie
dieser Wilde wohl eben nicht der stehen gebliebene Ahne selbst
sei, sondern ein altes Abspaltungsprodukt, das als solches sich
vom großen Stamm löste und seine eigenen, gesonderten Wege

tropiſchen Urwaldleben wenig ausgenutzt. Sollte uns in dieſen
Pygmäen ein ganz urälteſtes Abſpaltungsprodukt der Menſch¬
heit noch erhalten ſein? Eines, das ſchon ſüdwärts ging, als
die Enthaarung noch nicht ganz vollendet war? Und ſollte
uns hier ein Fingerzeig am Ende gar gegeben ſein, daß die
Urraſſe der Menſchheit im Ganzen einen mehr oder minder
zwerghaften Bau beſaß? Es iſt wirklich ein merkwürdiges
Ding um dieſe Zwerge. Am indiſchen Ozean taucht in den
Weddas ein ebenſo zwerghafter Reſt Menſchen mit denkbar
einfachſter, urtümlichſter Kultur auf. Durch alle Kulturländer
gehen die Zwergenſagen, wie das letzte Anklingen einer alten
Welle aus der Tiefe. Und den Gipfel ſetzt die Entdeckung
unverkennbarer Pygmäen-Skelette in einer noch vorgeſchichtlichen,
der Eiszeit ſich nähernden Fundſtelle bei uns in Europa, —
in Schweizersbild bei Schaffhauſen. Mindeſtens wird man
ſich denken müſſen, daß ganz früh bereits ein beſtimmter
Raſſenzweig der Ur-Menſchheit dieſe Zwergenbahn eingeſchlagen
hat und, wo er ſich überhaupt erhielt, auch zäh bei ſeiner
Kleinheit geblieben iſt.

Doch dieſe Betrachtung führt dich von ſelbſt auf eine
tiefere: in wiefern wir uns überhaupt noch ein Bild aus dem
heute da und dort ſüdwärts Verbannten zurecht zimmern könnten
vom Kulturzuſtand unſerer Eiszeit- oder Voreiszeit-Ahnen.

[Abbildung]

Die alte Auffaſſung hatte es ja da bequemer, — ſie
ſagte einfach: alles, was nackter Wilder iſt, ſteht dem Tier
näher und muß alſo noch unſere Entwickelungsahnen an der
unteren Menſchengrenze ſpiegeln. Wir bedenken aber jetzt, wie
dieſer Wilde wohl eben nicht der ſtehen gebliebene Ahne ſelbſt
ſei, ſondern ein altes Abſpaltungsprodukt, das als ſolches ſich
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[82/0096] tropiſchen Urwaldleben wenig ausgenutzt. Sollte uns in dieſen Pygmäen ein ganz urälteſtes Abſpaltungsprodukt der Menſch¬ heit noch erhalten ſein? Eines, das ſchon ſüdwärts ging, als die Enthaarung noch nicht ganz vollendet war? Und ſollte uns hier ein Fingerzeig am Ende gar gegeben ſein, daß die Urraſſe der Menſchheit im Ganzen einen mehr oder minder zwerghaften Bau beſaß? Es iſt wirklich ein merkwürdiges Ding um dieſe Zwerge. Am indiſchen Ozean taucht in den Weddas ein ebenſo zwerghafter Reſt Menſchen mit denkbar einfachſter, urtümlichſter Kultur auf. Durch alle Kulturländer gehen die Zwergenſagen, wie das letzte Anklingen einer alten Welle aus der Tiefe. Und den Gipfel ſetzt die Entdeckung unverkennbarer Pygmäen-Skelette in einer noch vorgeſchichtlichen, der Eiszeit ſich nähernden Fundſtelle bei uns in Europa, — in Schweizersbild bei Schaffhauſen. Mindeſtens wird man ſich denken müſſen, daß ganz früh bereits ein beſtimmter Raſſenzweig der Ur-Menſchheit dieſe Zwergenbahn eingeſchlagen hat und, wo er ſich überhaupt erhielt, auch zäh bei ſeiner Kleinheit geblieben iſt. Doch dieſe Betrachtung führt dich von ſelbſt auf eine tiefere: in wiefern wir uns überhaupt noch ein Bild aus dem heute da und dort ſüdwärts Verbannten zurecht zimmern könnten vom Kulturzuſtand unſerer Eiszeit- oder Voreiszeit-Ahnen. [Abbildung] Die alte Auffaſſung hatte es ja da bequemer, — ſie ſagte einfach: alles, was nackter Wilder iſt, ſteht dem Tier näher und muß alſo noch unſere Entwickelungsahnen an der unteren Menſchengrenze ſpiegeln. Wir bedenken aber jetzt, wie dieſer Wilde wohl eben nicht der ſtehen gebliebene Ahne ſelbſt ſei, ſondern ein altes Abſpaltungsprodukt, das als ſolches ſich vom großen Stamm löſte und ſeine eigenen, geſonderten Wege

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/96>, abgerufen am 19.05.2024.