Das merkwürdigste tertiäre Säugetier ist der Mensch.
Jede Faser an ihm deutet aufs strengste darauf hin, daß er in die Reihe jener nordtertiären Tierwelt gehört. Er gehört aufs engste, untrennbar in die Welt der Elefanten, Nashörner, Nil¬ pferde, Sivatherien, Giraffen, Helladotherien und Machairoden. Was diese von den Schnablern und Beutlern Australiens, von den Riesenfaultieren und Glyptodonten Südamerikas trennt, trennt auch ihn. Wenn die Wiege jener üppigsten Säugerschöpfung auf der Nordhalbkugel lag, so lag auch seine dort. In den sommer¬ frohen immergrünen Wäldern dieser Tertiärzeit erscheint zum erstenmal das schöne Tropenland wirklich dem Orte und der Zeit nach lokalisiert, das von Forster bis auf Darwin "irgendwo" als realer Urboden der Menschwerdung geträumt wurde. Wenn wir zugleich aber diese Tertiärwälder in tropenhafter Fülle ring¬ förmig gegen den nördlichen Polarkreis sich gruppieren sehen, so fällt jeder Zwang fort, diese Menschenentstehung zwischen die wirklichen Wendekreise in die Linie der senkrechten Sonne zu rücken. Heute leben die spärlichen Reste menschenähnlicher Affen im zentralen Afrika und im Süden Afrikas. Aber das sind ja nur allgemein für unsere Tage die klimatischen Strandungswinkel der vom Norden herabgeschwemmten tertiären Säugetier-Arche. In der Blüte des Tertiär selber hauste der Pliopithekus, der ein echter Gibbon war, in der Schweiz und der Dryopithekus, der größer war als unser Schimpanse, in Frankreich und in Schwaben. Nicht das geringste steht im Wege, sich hier oder in ähnlichen, noch nördlicheren Gegenden auch jenen weltgeschichtlichen Gibbon zu denken, der anfing, gewohnheits¬ mäßig aufrecht zu laufen, sich mit seinen Genossen durch eine verwickeltere Sprache, als die bisherige Affensprache war, zu ver¬ ständigen und sich durch selbstgeschaffene Werkzeuge zu schützen und in seiner ganzen Lage zu verbessern. Hier bereits mußten alle jene Dinge sich vollziehen, die wir oben besprochen haben: die Wirkung der Wärme -- und die Unmöglichkeit einer Entblößung der Haut durch plötzliche erotisch-ästhetische Liebhaberei für Nacktheit.
Das merkwürdigſte tertiäre Säugetier iſt der Menſch.
Jede Faſer an ihm deutet aufs ſtrengſte darauf hin, daß er in die Reihe jener nordtertiären Tierwelt gehört. Er gehört aufs engſte, untrennbar in die Welt der Elefanten, Nashörner, Nil¬ pferde, Sivatherien, Giraffen, Helladotherien und Machairoden. Was dieſe von den Schnablern und Beutlern Auſtraliens, von den Rieſenfaultieren und Glyptodonten Südamerikas trennt, trennt auch ihn. Wenn die Wiege jener üppigſten Säugerſchöpfung auf der Nordhalbkugel lag, ſo lag auch ſeine dort. In den ſommer¬ frohen immergrünen Wäldern dieſer Tertiärzeit erſcheint zum erſtenmal das ſchöne Tropenland wirklich dem Orte und der Zeit nach lokaliſiert, das von Forſter bis auf Darwin „irgendwo“ als realer Urboden der Menſchwerdung geträumt wurde. Wenn wir zugleich aber dieſe Tertiärwälder in tropenhafter Fülle ring¬ förmig gegen den nördlichen Polarkreis ſich gruppieren ſehen, ſo fällt jeder Zwang fort, dieſe Menſchenentſtehung zwiſchen die wirklichen Wendekreiſe in die Linie der ſenkrechten Sonne zu rücken. Heute leben die ſpärlichen Reſte menſchenähnlicher Affen im zentralen Afrika und im Süden Afrikas. Aber das ſind ja nur allgemein für unſere Tage die klimatiſchen Strandungswinkel der vom Norden herabgeſchwemmten tertiären Säugetier-Arche. In der Blüte des Tertiär ſelber hauſte der Pliopithekus, der ein echter Gibbon war, in der Schweiz und der Dryopithekus, der größer war als unſer Schimpanſe, in Frankreich und in Schwaben. Nicht das geringſte ſteht im Wege, ſich hier oder in ähnlichen, noch nördlicheren Gegenden auch jenen weltgeſchichtlichen Gibbon zu denken, der anfing, gewohnheits¬ mäßig aufrecht zu laufen, ſich mit ſeinen Genoſſen durch eine verwickeltere Sprache, als die bisherige Affenſprache war, zu ver¬ ſtändigen und ſich durch ſelbſtgeſchaffene Werkzeuge zu ſchützen und in ſeiner ganzen Lage zu verbeſſern. Hier bereits mußten alle jene Dinge ſich vollziehen, die wir oben beſprochen haben: die Wirkung der Wärme — und die Unmöglichkeit einer Entblößung der Haut durch plötzliche erotiſch-äſthetiſche Liebhaberei für Nacktheit.
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Das merkwürdigſte tertiäre Säugetier iſt der Menſch.
Jede Faſer an ihm deutet aufs ſtrengſte darauf hin, daß er
in die Reihe jener nordtertiären Tierwelt gehört. Er gehört aufs
engſte, untrennbar in die Welt der Elefanten, Nashörner, Nil¬
pferde, Sivatherien, Giraffen, Helladotherien und Machairoden.
Was dieſe von den Schnablern und Beutlern Auſtraliens, von den
Rieſenfaultieren und Glyptodonten Südamerikas trennt, trennt
auch ihn. Wenn die Wiege jener üppigſten Säugerſchöpfung auf
der Nordhalbkugel lag, ſo lag auch ſeine dort. In den ſommer¬
frohen immergrünen Wäldern dieſer Tertiärzeit erſcheint zum
erſtenmal das ſchöne Tropenland wirklich dem Orte und der
Zeit nach lokaliſiert, das von Forſter bis auf Darwin „irgendwo“
als realer Urboden der Menſchwerdung geträumt wurde. Wenn
wir zugleich aber dieſe Tertiärwälder in tropenhafter Fülle ring¬
förmig gegen den nördlichen Polarkreis ſich gruppieren ſehen,
ſo fällt jeder Zwang fort, dieſe Menſchenentſtehung zwiſchen
die wirklichen Wendekreiſe in die Linie der ſenkrechten Sonne
zu rücken. Heute leben die ſpärlichen Reſte menſchenähnlicher
Affen im zentralen Afrika und im Süden Afrikas. Aber das
ſind ja nur allgemein für unſere Tage die klimatiſchen
Strandungswinkel der vom Norden herabgeſchwemmten tertiären
Säugetier-Arche. In der Blüte des Tertiär ſelber hauſte der
Pliopithekus, der ein echter Gibbon war, in der Schweiz und
der Dryopithekus, der größer war als unſer Schimpanſe, in
Frankreich und in Schwaben. Nicht das geringſte ſteht im Wege,
ſich hier oder in ähnlichen, noch nördlicheren Gegenden auch jenen
weltgeſchichtlichen Gibbon zu denken, der anfing, gewohnheits¬
mäßig aufrecht zu laufen, ſich mit ſeinen Genoſſen durch eine
verwickeltere Sprache, als die bisherige Affenſprache war, zu ver¬
ſtändigen und ſich durch ſelbſtgeſchaffene Werkzeuge zu ſchützen und
in ſeiner ganzen Lage zu verbeſſern. Hier bereits mußten alle jene
Dinge ſich vollziehen, die wir oben beſprochen haben: die Wirkung
der Wärme — und die Unmöglichkeit einer Entblößung der
Haut durch plötzliche erotiſch-äſthetiſche Liebhaberei für Nacktheit.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/61>, abgerufen am 25.11.2024.
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