werdende Menschlein innerhalb der Gebärmutter wie ein Fisch¬ lein im Aquarium schwamm. Amnion nennt man es: die Eihäute sind es eigentlich. Nun denn dieses Amnion ist es, das die Phantasie mit dem Heiligenschein goldig umleuchtet hat. Wenn das Kind noch bei der Geburt ausnahmsweise selber mit ihm behelmt ist, anstatt daß es nachkomme, so gilt das als die "Glückshaube". In Modena heißt's heute noch das Muttergotteshemdlein. Es ist ein heiliges Amulet, das das Kind dauernd am Halse tragen soll. Dem Täufling wird es beigelegt, damit es selber die Taufe erhalte. Hebammen stehlen es oft und stecken es andern Kindern zu, daß sie Glückskinder werden. Aber in die Heiligkeit hinein tönt eine Marktschreier¬ stimme. Zum ersten, zum dritten, zum letzten Mal! Im Eng¬ land des neunzehnten Jahrhunderts ist der Glaube an solche Zeichen und Mirakel noch so groß, daß eine feste Taxe für ein Glücksamnion besteht. In der "Times" standen Annoncen, in denen eins zu kaufen gesucht wurde. 1779 galt der Markt¬ preis noch 20 Guineen, 1848 hatte die Aufklärung ihn bis auf 6 Guineen gedrückt, -- Börsenwert der Aufklärung! Dabei sind die Käufer nicht bloß Hebammen. Dort der Jurist hat sich heimlich so ein Ding als Glückshörnchen angehängt: denn es soll dem Advokaten Glück im Amt schaffen. In Island wohnt Fylgia, der Schutzgeist des Kindes, in dem Häubchen, es bleibt in Kontakt mit der Kindesseele. In Süd-Rußland rührt das Mädchen mit diesem treu bewahrten Amulet an eine nackte Körperstelle des Burschen und alsbald muß er sie lieben.
Siehst du aber jetzt die ungeheure Prozession, die endlos wie eine Midgardschlange von Weltenlänge da hinten durch den Nebel wallt? Dämonische Gestalten von Übermenschengröße, Männer und Weiber, dazwischen Kobolde wie kleine Kinder. Die Götter sind es, die hinter der Geburt stehen. Unzählige, wie sollten sie nicht. Erinnere dich, daß die Mexikaner in ihrem isolierten Erdenwinkel allein nach gelinder Schätzung zweitausend Götter hatten. Zweitausend Götter für zweitausend
werdende Menſchlein innerhalb der Gebärmutter wie ein Fiſch¬ lein im Aquarium ſchwamm. Amnion nennt man es: die Eihäute ſind es eigentlich. Nun denn dieſes Amnion iſt es, das die Phantaſie mit dem Heiligenſchein goldig umleuchtet hat. Wenn das Kind noch bei der Geburt ausnahmsweiſe ſelber mit ihm behelmt iſt, anſtatt daß es nachkomme, ſo gilt das als die „Glückshaube“. In Modena heißt's heute noch das Muttergotteshemdlein. Es iſt ein heiliges Amulet, das das Kind dauernd am Halſe tragen ſoll. Dem Täufling wird es beigelegt, damit es ſelber die Taufe erhalte. Hebammen ſtehlen es oft und ſtecken es andern Kindern zu, daß ſie Glückskinder werden. Aber in die Heiligkeit hinein tönt eine Marktſchreier¬ ſtimme. Zum erſten, zum dritten, zum letzten Mal! Im Eng¬ land des neunzehnten Jahrhunderts iſt der Glaube an ſolche Zeichen und Mirakel noch ſo groß, daß eine feſte Taxe für ein Glücksamnion beſteht. In der „Times“ ſtanden Annoncen, in denen eins zu kaufen geſucht wurde. 1779 galt der Markt¬ preis noch 20 Guineen, 1848 hatte die Aufklärung ihn bis auf 6 Guineen gedrückt, — Börſenwert der Aufklärung! Dabei ſind die Käufer nicht bloß Hebammen. Dort der Juriſt hat ſich heimlich ſo ein Ding als Glückshörnchen angehängt: denn es ſoll dem Advokaten Glück im Amt ſchaffen. In Island wohnt Fylgia, der Schutzgeiſt des Kindes, in dem Häubchen, es bleibt in Kontakt mit der Kindesſeele. In Süd-Rußland rührt das Mädchen mit dieſem treu bewahrten Amulet an eine nackte Körperſtelle des Burſchen und alsbald muß er ſie lieben.
Siehſt du aber jetzt die ungeheure Prozeſſion, die endlos wie eine Midgardſchlange von Weltenlänge da hinten durch den Nebel wallt? Dämoniſche Geſtalten von Übermenſchengröße, Männer und Weiber, dazwiſchen Kobolde wie kleine Kinder. Die Götter ſind es, die hinter der Geburt ſtehen. Unzählige, wie ſollten ſie nicht. Erinnere dich, daß die Mexikaner in ihrem iſolierten Erdenwinkel allein nach gelinder Schätzung zweitauſend Götter hatten. Zweitauſend Götter für zweitauſend
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0333"n="319"/>
werdende Menſchlein innerhalb der Gebärmutter wie ein Fiſch¬<lb/>
lein im Aquarium ſchwamm. Amnion nennt man es: die<lb/>
Eihäute ſind es eigentlich. Nun denn dieſes Amnion iſt es,<lb/>
das die Phantaſie mit dem Heiligenſchein goldig umleuchtet hat.<lb/>
Wenn das Kind noch bei der Geburt ausnahmsweiſe ſelber<lb/>
mit ihm behelmt iſt, anſtatt daß es nachkomme, ſo gilt das<lb/>
als die „Glückshaube“. In Modena heißt's heute noch das<lb/>
Muttergotteshemdlein. Es iſt ein heiliges Amulet, das das<lb/>
Kind dauernd am Halſe tragen ſoll. Dem Täufling wird es<lb/>
beigelegt, damit es ſelber die Taufe erhalte. Hebammen ſtehlen<lb/>
es oft und ſtecken es andern Kindern zu, daß ſie Glückskinder<lb/>
werden. Aber in die Heiligkeit hinein tönt eine Marktſchreier¬<lb/>ſtimme. Zum erſten, zum dritten, zum letzten Mal! Im Eng¬<lb/>
land des neunzehnten Jahrhunderts iſt der Glaube an ſolche<lb/>
Zeichen und Mirakel noch ſo groß, daß eine feſte Taxe für<lb/>
ein Glücksamnion beſteht. In der „Times“ſtanden Annoncen,<lb/>
in denen eins zu kaufen geſucht wurde. 1779 galt der Markt¬<lb/>
preis noch 20 Guineen, 1848 hatte die Aufklärung ihn bis<lb/>
auf 6 Guineen gedrückt, — Börſenwert der Aufklärung! Dabei<lb/>ſind die Käufer nicht bloß Hebammen. Dort der Juriſt hat<lb/>ſich heimlich ſo ein Ding als Glückshörnchen angehängt: denn<lb/>
es ſoll dem Advokaten Glück im Amt ſchaffen. In Island<lb/>
wohnt Fylgia, der Schutzgeiſt des Kindes, in dem Häubchen,<lb/>
es bleibt in Kontakt mit der Kindesſeele. In Süd-Rußland<lb/>
rührt das Mädchen mit dieſem treu bewahrten Amulet an eine<lb/>
nackte Körperſtelle des Burſchen und alsbald muß er ſie lieben.<lb/></p><p>Siehſt du aber jetzt die ungeheure Prozeſſion, die endlos<lb/>
wie eine Midgardſchlange von Weltenlänge da hinten durch den<lb/>
Nebel wallt? Dämoniſche Geſtalten von Übermenſchengröße,<lb/>
Männer und Weiber, dazwiſchen Kobolde wie kleine Kinder.<lb/>
Die Götter ſind es, die hinter der Geburt ſtehen. Unzählige,<lb/>
wie ſollten ſie nicht. Erinnere dich, daß die Mexikaner in<lb/>
ihrem iſolierten Erdenwinkel allein nach gelinder Schätzung<lb/>
zweitauſend Götter hatten. Zweitauſend Götter für zweitauſend<lb/></p></div></body></text></TEI>
[319/0333]
werdende Menſchlein innerhalb der Gebärmutter wie ein Fiſch¬
lein im Aquarium ſchwamm. Amnion nennt man es: die
Eihäute ſind es eigentlich. Nun denn dieſes Amnion iſt es,
das die Phantaſie mit dem Heiligenſchein goldig umleuchtet hat.
Wenn das Kind noch bei der Geburt ausnahmsweiſe ſelber
mit ihm behelmt iſt, anſtatt daß es nachkomme, ſo gilt das
als die „Glückshaube“. In Modena heißt's heute noch das
Muttergotteshemdlein. Es iſt ein heiliges Amulet, das das
Kind dauernd am Halſe tragen ſoll. Dem Täufling wird es
beigelegt, damit es ſelber die Taufe erhalte. Hebammen ſtehlen
es oft und ſtecken es andern Kindern zu, daß ſie Glückskinder
werden. Aber in die Heiligkeit hinein tönt eine Marktſchreier¬
ſtimme. Zum erſten, zum dritten, zum letzten Mal! Im Eng¬
land des neunzehnten Jahrhunderts iſt der Glaube an ſolche
Zeichen und Mirakel noch ſo groß, daß eine feſte Taxe für
ein Glücksamnion beſteht. In der „Times“ ſtanden Annoncen,
in denen eins zu kaufen geſucht wurde. 1779 galt der Markt¬
preis noch 20 Guineen, 1848 hatte die Aufklärung ihn bis
auf 6 Guineen gedrückt, — Börſenwert der Aufklärung! Dabei
ſind die Käufer nicht bloß Hebammen. Dort der Juriſt hat
ſich heimlich ſo ein Ding als Glückshörnchen angehängt: denn
es ſoll dem Advokaten Glück im Amt ſchaffen. In Island
wohnt Fylgia, der Schutzgeiſt des Kindes, in dem Häubchen,
es bleibt in Kontakt mit der Kindesſeele. In Süd-Rußland
rührt das Mädchen mit dieſem treu bewahrten Amulet an eine
nackte Körperſtelle des Burſchen und alsbald muß er ſie lieben.
Siehſt du aber jetzt die ungeheure Prozeſſion, die endlos
wie eine Midgardſchlange von Weltenlänge da hinten durch den
Nebel wallt? Dämoniſche Geſtalten von Übermenſchengröße,
Männer und Weiber, dazwiſchen Kobolde wie kleine Kinder.
Die Götter ſind es, die hinter der Geburt ſtehen. Unzählige,
wie ſollten ſie nicht. Erinnere dich, daß die Mexikaner in
ihrem iſolierten Erdenwinkel allein nach gelinder Schätzung
zweitauſend Götter hatten. Zweitauſend Götter für zweitauſend
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/333>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.