menschliche Bedürfnisse. Wie gewaltig aber steht unter diesen Bedürfnissen das ungeheure nach dem Menschen selbst: Liebe, Zeugung, Geburt. Wo es Götter regnet in der Phantasie wie weiße Kirschblüten im Lenzwind, da häufen sie sich über diesem großen Centrum am dichtesten.
Da schreitet die uralte Istar aus dem Euphratthal, aus der sumerisch-akkadischen Kultur, wo zuerst Astronomie blüte, aber der ganze Sternenhimmel zugleich auch in Göttern auf die Erde kam bis in jedes profane Alltagsgeschäft herein. Istar ist das symbolische All-Weib, das in jede Wöchnerin fährt, wenn sie gebären soll, das in ihr, durch sie aus dem All herausgebiert. Als die Sintflut braust -- dort stammt ja der Mythus her, von dort ist er uns im Keilschrift-Urtext überliefert -- da jammert Istar, daß ihre Menschen, die sie alle geboren hat, wie Fische ins uferlose Meer tauchen sollen. Aber Istar hat nicht nur Menschen geboren. Mit dem Phantasiegott hat sie weitere Wunderwesen aus sich erzeugt. Da wandelt Astarte, ihre babylonische Riesentochter, auch sie "Allgebärerin". Durch sie als Mittlerin rinnt die mystische Zeugung, die hinter aller natürlichen gedacht wird, vom Mond, von den Sternen zur empfangenden Erde. Alles gehört ihr: die Jungfrau wie die Mutter, die Unschuld und das Kind.
Sie wird Mylitta und in ihrem Tempel zu Babylon finden jene Weiheopfer der Weibesblüte statt, von denen wir gesprochen haben. Da sitzen die Frauen zu langen Scharen gereiht, das Haupt mit Schnurkränzen umwunden, Spalier bildend beiderseits einer offenen Mittelgasse, die mit aus¬ gespannten Stricken frei gehalten ist. Die vornehmeren Damen sind in einem geschlossenen Wagen angekommen, von Sklavinnen dicht umschart. Alle aber harren des Gottesopfers. Nun nahen fremde Männer in der Mittelallee. Sie wählen nach ihrem Gutdünken. Ein Geldstück klirrt in den Schoß der Erwählten (es kommt in den Tempelschatz), dazu der Ruf "Mylitta". Mylitta will, Mylitta hat gewählt. Schweigend folgt das
menſchliche Bedürfniſſe. Wie gewaltig aber ſteht unter dieſen Bedürfniſſen das ungeheure nach dem Menſchen ſelbſt: Liebe, Zeugung, Geburt. Wo es Götter regnet in der Phantaſie wie weiße Kirſchblüten im Lenzwind, da häufen ſie ſich über dieſem großen Centrum am dichteſten.
Da ſchreitet die uralte Iſtar aus dem Euphratthal, aus der ſumeriſch-akkadiſchen Kultur, wo zuerſt Aſtronomie blüte, aber der ganze Sternenhimmel zugleich auch in Göttern auf die Erde kam bis in jedes profane Alltagsgeſchäft herein. Iſtar iſt das ſymboliſche All-Weib, das in jede Wöchnerin fährt, wenn ſie gebären ſoll, das in ihr, durch ſie aus dem All herausgebiert. Als die Sintflut brauſt — dort ſtammt ja der Mythus her, von dort iſt er uns im Keilſchrift-Urtext überliefert — da jammert Iſtar, daß ihre Menſchen, die ſie alle geboren hat, wie Fiſche ins uferloſe Meer tauchen ſollen. Aber Iſtar hat nicht nur Menſchen geboren. Mit dem Phantaſiegott hat ſie weitere Wunderweſen aus ſich erzeugt. Da wandelt Aſtarte, ihre babyloniſche Rieſentochter, auch ſie „Allgebärerin“. Durch ſie als Mittlerin rinnt die myſtiſche Zeugung, die hinter aller natürlichen gedacht wird, vom Mond, von den Sternen zur empfangenden Erde. Alles gehört ihr: die Jungfrau wie die Mutter, die Unſchuld und das Kind.
Sie wird Mylitta und in ihrem Tempel zu Babylon finden jene Weiheopfer der Weibesblüte ſtatt, von denen wir geſprochen haben. Da ſitzen die Frauen zu langen Scharen gereiht, das Haupt mit Schnurkränzen umwunden, Spalier bildend beiderſeits einer offenen Mittelgaſſe, die mit aus¬ geſpannten Stricken frei gehalten iſt. Die vornehmeren Damen ſind in einem geſchloſſenen Wagen angekommen, von Sklavinnen dicht umſchart. Alle aber harren des Gottesopfers. Nun nahen fremde Männer in der Mittelallee. Sie wählen nach ihrem Gutdünken. Ein Geldſtück klirrt in den Schoß der Erwählten (es kommt in den Tempelſchatz), dazu der Ruf „Mylitta“. Mylitta will, Mylitta hat gewählt. Schweigend folgt das
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0334"n="320"/>
menſchliche Bedürfniſſe. Wie gewaltig aber ſteht unter dieſen<lb/>
Bedürfniſſen das ungeheure nach dem Menſchen ſelbſt: Liebe,<lb/>
Zeugung, Geburt. Wo es Götter regnet in der Phantaſie wie<lb/>
weiße Kirſchblüten im Lenzwind, da häufen ſie ſich über dieſem<lb/>
großen Centrum am dichteſten.</p><lb/><p>Da ſchreitet die uralte Iſtar aus dem Euphratthal, aus<lb/>
der ſumeriſch-akkadiſchen Kultur, wo zuerſt Aſtronomie blüte,<lb/>
aber der ganze Sternenhimmel zugleich auch in Göttern auf<lb/>
die Erde kam bis in jedes profane Alltagsgeſchäft herein.<lb/>
Iſtar iſt das ſymboliſche All-Weib, das in jede Wöchnerin<lb/>
fährt, wenn ſie gebären ſoll, das in ihr, durch ſie aus dem<lb/>
All herausgebiert. Als die Sintflut brauſt — dort ſtammt<lb/>
ja der Mythus her, von dort iſt er uns im Keilſchrift-Urtext<lb/>
überliefert — da jammert Iſtar, daß ihre Menſchen, die<lb/>ſie alle geboren hat, wie Fiſche ins uferloſe Meer tauchen<lb/>ſollen. Aber Iſtar hat nicht nur Menſchen geboren. Mit dem<lb/>
Phantaſiegott hat ſie weitere Wunderweſen aus ſich erzeugt.<lb/>
Da wandelt Aſtarte, ihre babyloniſche Rieſentochter, auch ſie<lb/>„Allgebärerin“. Durch ſie als Mittlerin rinnt die myſtiſche<lb/>
Zeugung, die hinter aller natürlichen gedacht wird, vom Mond,<lb/>
von den Sternen zur empfangenden Erde. Alles gehört ihr:<lb/>
die Jungfrau wie die Mutter, die Unſchuld und das Kind.</p><lb/><p>Sie wird Mylitta und in ihrem Tempel zu Babylon<lb/>
finden jene Weiheopfer der Weibesblüte ſtatt, von denen wir<lb/>
geſprochen haben. Da ſitzen die Frauen zu langen Scharen<lb/>
gereiht, das <choice><sic>Hanpt</sic><corr>Haupt</corr></choice> mit Schnurkränzen umwunden, Spalier<lb/>
bildend beiderſeits einer offenen Mittelgaſſe, die mit aus¬<lb/>
geſpannten Stricken frei gehalten iſt. Die vornehmeren Damen<lb/>ſind in einem geſchloſſenen Wagen angekommen, von Sklavinnen<lb/>
dicht umſchart. Alle aber harren des Gottesopfers. Nun nahen<lb/>
fremde Männer in der Mittelallee. Sie wählen nach ihrem<lb/>
Gutdünken. Ein Geldſtück klirrt in den Schoß der Erwählten<lb/>
(es kommt in den Tempelſchatz), dazu der Ruf „Mylitta“.<lb/>
Mylitta will, Mylitta hat gewählt. Schweigend folgt das<lb/></p></div></body></text></TEI>
[320/0334]
menſchliche Bedürfniſſe. Wie gewaltig aber ſteht unter dieſen
Bedürfniſſen das ungeheure nach dem Menſchen ſelbſt: Liebe,
Zeugung, Geburt. Wo es Götter regnet in der Phantaſie wie
weiße Kirſchblüten im Lenzwind, da häufen ſie ſich über dieſem
großen Centrum am dichteſten.
Da ſchreitet die uralte Iſtar aus dem Euphratthal, aus
der ſumeriſch-akkadiſchen Kultur, wo zuerſt Aſtronomie blüte,
aber der ganze Sternenhimmel zugleich auch in Göttern auf
die Erde kam bis in jedes profane Alltagsgeſchäft herein.
Iſtar iſt das ſymboliſche All-Weib, das in jede Wöchnerin
fährt, wenn ſie gebären ſoll, das in ihr, durch ſie aus dem
All herausgebiert. Als die Sintflut brauſt — dort ſtammt
ja der Mythus her, von dort iſt er uns im Keilſchrift-Urtext
überliefert — da jammert Iſtar, daß ihre Menſchen, die
ſie alle geboren hat, wie Fiſche ins uferloſe Meer tauchen
ſollen. Aber Iſtar hat nicht nur Menſchen geboren. Mit dem
Phantaſiegott hat ſie weitere Wunderweſen aus ſich erzeugt.
Da wandelt Aſtarte, ihre babyloniſche Rieſentochter, auch ſie
„Allgebärerin“. Durch ſie als Mittlerin rinnt die myſtiſche
Zeugung, die hinter aller natürlichen gedacht wird, vom Mond,
von den Sternen zur empfangenden Erde. Alles gehört ihr:
die Jungfrau wie die Mutter, die Unſchuld und das Kind.
Sie wird Mylitta und in ihrem Tempel zu Babylon
finden jene Weiheopfer der Weibesblüte ſtatt, von denen wir
geſprochen haben. Da ſitzen die Frauen zu langen Scharen
gereiht, das Haupt mit Schnurkränzen umwunden, Spalier
bildend beiderſeits einer offenen Mittelgaſſe, die mit aus¬
geſpannten Stricken frei gehalten iſt. Die vornehmeren Damen
ſind in einem geſchloſſenen Wagen angekommen, von Sklavinnen
dicht umſchart. Alle aber harren des Gottesopfers. Nun nahen
fremde Männer in der Mittelallee. Sie wählen nach ihrem
Gutdünken. Ein Geldſtück klirrt in den Schoß der Erwählten
(es kommt in den Tempelſchatz), dazu der Ruf „Mylitta“.
Mylitta will, Mylitta hat gewählt. Schweigend folgt das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/334>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.