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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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man den Heraufgang der Dinge bei uns ansieht, so tritt ein
groß Teil grober Physis als überflüssig zurück in unserm
Kulturleben, und es wird noch mehr zurücktreten. Studenten
werden sich in absehbarer Folge keine blutigen Ehrenkerbe
mehr in die Backen hauen, und Kulturnationen werden nicht
mehr mit Pulver und Blei eine umgekehrte "Auslese der
Passenden" durch Aufopfern ihrer gesundesten Kräfte in bar¬
barisch-anachronistischen Kriegen üben. Ungezählte schlechte,
physisch abnutzende, aber nicht stählende Körperarbeit unseres
Wirtschaftslebens wird in gleicher Frist wieder verschwinden.
Aber erst recht wird darum der "gesunde Körper" wichtig und
immer wichtiger werden als Basis der intellektuellen Leistung:
-- der Kulturmensch wird mehr und immer mehr seinen
ganzen Leib als eine Energiemaschine für die Arbeit seines
Gehirns schätzen und Pflegen lernen, und so wird die höchste
Stufe intellektueller, vergeistigter Kultur auch die höchste Stufe
raffiniertester Sorgfalt in der beständigen Stählung und Ge¬
sunderhaltung des Körpers sein. Es ist der Geist, den wir
stählen und gesund erhalten mit diesem Körper.

Das wieder ergiebt aber für den Kampf der Frau die
große Folgerung, daß jeder Schritt zur körperlichen Besserung
der Frau ihr auch die Bahn zugleich aufschlägt zur wachsenden
Teilnahme an der immer zunehmenden Vergeistigung der Kultur.

Die gleiche Frau, die durch Wiederherstellung ihrer vollen,
ursprünglichen menschlichen Körperkraft wieder ihren Mutter¬
pflichten sich in gesundem, harmonischem Sinne gewachsen zeigt,
wird jenseits dieser Pflichten einen neuen Frühling ihres
Intellekts
erleben, vor dem alle Ofenweisheit auch von der
geistig schwachen Frau verstummen muß.

In der Frau wird nichts Größeres, aber auch nichts
Geringeres erscheinen, als -- der Mensch. Dieser Mensch
aber in seiner Vollkraft, in seiner Kraft, die stark ist, heute
in den Sternen zu lesen und morgen ein Kind zu gebären,
ohne daß eines das andere stört.

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man den Heraufgang der Dinge bei uns anſieht, ſo tritt ein
groß Teil grober Phyſis als überflüſſig zurück in unſerm
Kulturleben, und es wird noch mehr zurücktreten. Studenten
werden ſich in abſehbarer Folge keine blutigen Ehrenkerbe
mehr in die Backen hauen, und Kulturnationen werden nicht
mehr mit Pulver und Blei eine umgekehrte „Ausleſe der
Paſſenden“ durch Aufopfern ihrer geſundeſten Kräfte in bar¬
bariſch-anachroniſtiſchen Kriegen üben. Ungezählte ſchlechte,
phyſiſch abnutzende, aber nicht ſtählende Körperarbeit unſeres
Wirtſchaftslebens wird in gleicher Friſt wieder verſchwinden.
Aber erſt recht wird darum der „geſunde Körper“ wichtig und
immer wichtiger werden als Baſis der intellektuellen Leiſtung:
— der Kulturmenſch wird mehr und immer mehr ſeinen
ganzen Leib als eine Energiemaſchine für die Arbeit ſeines
Gehirns ſchätzen und Pflegen lernen, und ſo wird die höchſte
Stufe intellektueller, vergeiſtigter Kultur auch die höchſte Stufe
raffinierteſter Sorgfalt in der beſtändigen Stählung und Ge¬
ſunderhaltung des Körpers ſein. Es iſt der Geiſt, den wir
ſtählen und geſund erhalten mit dieſem Körper.

Das wieder ergiebt aber für den Kampf der Frau die
große Folgerung, daß jeder Schritt zur körperlichen Beſſerung
der Frau ihr auch die Bahn zugleich aufſchlägt zur wachſenden
Teilnahme an der immer zunehmenden Vergeiſtigung der Kultur.

Die gleiche Frau, die durch Wiederherſtellung ihrer vollen,
urſprünglichen menſchlichen Körperkraft wieder ihren Mutter¬
pflichten ſich in geſundem, harmoniſchem Sinne gewachſen zeigt,
wird jenſeits dieſer Pflichten einen neuen Frühling ihres
Intellekts
erleben, vor dem alle Ofenweisheit auch von der
geiſtig ſchwachen Frau verſtummen muß.

In der Frau wird nichts Größeres, aber auch nichts
Geringeres erſcheinen, als — der Menſch. Dieſer Menſch
aber in ſeiner Vollkraft, in ſeiner Kraft, die ſtark iſt, heute
in den Sternen zu leſen und morgen ein Kind zu gebären,
ohne daß eines das andere ſtört.

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[289/0303] man den Heraufgang der Dinge bei uns anſieht, ſo tritt ein groß Teil grober Phyſis als überflüſſig zurück in unſerm Kulturleben, und es wird noch mehr zurücktreten. Studenten werden ſich in abſehbarer Folge keine blutigen Ehrenkerbe mehr in die Backen hauen, und Kulturnationen werden nicht mehr mit Pulver und Blei eine umgekehrte „Ausleſe der Paſſenden“ durch Aufopfern ihrer geſundeſten Kräfte in bar¬ bariſch-anachroniſtiſchen Kriegen üben. Ungezählte ſchlechte, phyſiſch abnutzende, aber nicht ſtählende Körperarbeit unſeres Wirtſchaftslebens wird in gleicher Friſt wieder verſchwinden. Aber erſt recht wird darum der „geſunde Körper“ wichtig und immer wichtiger werden als Baſis der intellektuellen Leiſtung: — der Kulturmenſch wird mehr und immer mehr ſeinen ganzen Leib als eine Energiemaſchine für die Arbeit ſeines Gehirns ſchätzen und Pflegen lernen, und ſo wird die höchſte Stufe intellektueller, vergeiſtigter Kultur auch die höchſte Stufe raffinierteſter Sorgfalt in der beſtändigen Stählung und Ge¬ ſunderhaltung des Körpers ſein. Es iſt der Geiſt, den wir ſtählen und geſund erhalten mit dieſem Körper. Das wieder ergiebt aber für den Kampf der Frau die große Folgerung, daß jeder Schritt zur körperlichen Beſſerung der Frau ihr auch die Bahn zugleich aufſchlägt zur wachſenden Teilnahme an der immer zunehmenden Vergeiſtigung der Kultur. Die gleiche Frau, die durch Wiederherſtellung ihrer vollen, urſprünglichen menſchlichen Körperkraft wieder ihren Mutter¬ pflichten ſich in geſundem, harmoniſchem Sinne gewachſen zeigt, wird jenſeits dieſer Pflichten einen neuen Frühling ihres Intellekts erleben, vor dem alle Ofenweisheit auch von der geiſtig ſchwachen Frau verſtummen muß. In der Frau wird nichts Größeres, aber auch nichts Geringeres erſcheinen, als — der Menſch. Dieſer Menſch aber in ſeiner Vollkraft, in ſeiner Kraft, die ſtark iſt, heute in den Sternen zu leſen und morgen ein Kind zu gebären, ohne daß eines das andere ſtört. 19

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/303>, abgerufen am 22.11.2024.