Auch das ist wieder ein Zug, der durch die ganze Menschheitsgeschichte heraufkommt, vom nackten Wilden, wo das junge Volk vielfältig eine Art Verband unter sich bildet mit freiesten Sitten, an denen Niemand Anstoß nimmt, -- bis zu unseren feierlichen Tanzvergnügen im Salon. Es hat ja den Beobachtern je nachdem das verzweifeltste Kopfzerbrechen gemacht: dicht nebeneinander stießen sie bei allen möglichen Völkern der großen Erdenarche auf die wahrhaft raffiniertesten Festigungen der Ehe, als sei diese das schlechterdings einzig Echte und Heilige neben Mann und Frau -- und dann wieder auf eine Ungebundenheit des Verkehrs der ledigen Jünglinge und Mädchen, die alledem Hohn zu sprechen schien.
Bei den Negern in Afrika hast du vielfach die schärfste Auffassung von Treue der Ehefrau -- und daneben gar kein Verständnis für klösterliche Keuschheit des noch unverheirateten Mädchens. Bei den Malayen in Lambok wird die Ehe¬ brecherin mit dem Verführer zusammengebunden und den Krokodilen vorgeworfen: das ledige junge Mädchen kann sich mit Männern einlassen soviel es will. Wo das Männerhaus noch so abgeschlossen gegen alle Ehefrauen ragt, da spinnen sich doch, wie erzählt, die Fäden ohne Scheu zu den ledigen Mädchen hinüber. Überall kreuzt ja diesen Zug jener andere feindlich: daß die Braut noch körperlich rein sein soll beim Eheschluß. Wo das ein Paragraph des Kaufkontraktes wird, muß natürlich der freie Mädchenverkehr eine Grenze haben weit unterhalb des eigentlichen erotischen Zieles. Aber anders¬ wo legt man hierauf eben kein Gewicht und dann steht gar nichts im Wege, daß nicht der echten Ehe die verschiedensten Probeverhältnisse vorausgegangen sein könnten.
Wer das jetzt oberflächlich anschaut, der wird jeden Standpunkt der Moral verlieren und von himmelschreiender Unkeuschheit des jungen Volkes reden. Und doch hatten gerade auch diese Sachen ihre grobe Naturmoral. Dieses freie Inter¬ regnum vor der Ehe steht in einem tiefen Kausalzusammenhang
Auch das iſt wieder ein Zug, der durch die ganze Menſchheitsgeſchichte heraufkommt, vom nackten Wilden, wo das junge Volk vielfältig eine Art Verband unter ſich bildet mit freieſten Sitten, an denen Niemand Anſtoß nimmt, — bis zu unſeren feierlichen Tanzvergnügen im Salon. Es hat ja den Beobachtern je nachdem das verzweifeltſte Kopfzerbrechen gemacht: dicht nebeneinander ſtießen ſie bei allen möglichen Völkern der großen Erdenarche auf die wahrhaft raffinierteſten Feſtigungen der Ehe, als ſei dieſe das ſchlechterdings einzig Echte und Heilige neben Mann und Frau — und dann wieder auf eine Ungebundenheit des Verkehrs der ledigen Jünglinge und Mädchen, die alledem Hohn zu ſprechen ſchien.
Bei den Negern in Afrika haſt du vielfach die ſchärfſte Auffaſſung von Treue der Ehefrau — und daneben gar kein Verſtändnis für klöſterliche Keuſchheit des noch unverheirateten Mädchens. Bei den Malayen in Lambok wird die Ehe¬ brecherin mit dem Verführer zuſammengebunden und den Krokodilen vorgeworfen: das ledige junge Mädchen kann ſich mit Männern einlaſſen ſoviel es will. Wo das Männerhaus noch ſo abgeſchloſſen gegen alle Ehefrauen ragt, da ſpinnen ſich doch, wie erzählt, die Fäden ohne Scheu zu den ledigen Mädchen hinüber. Überall kreuzt ja dieſen Zug jener andere feindlich: daß die Braut noch körperlich rein ſein ſoll beim Eheſchluß. Wo das ein Paragraph des Kaufkontraktes wird, muß natürlich der freie Mädchenverkehr eine Grenze haben weit unterhalb des eigentlichen erotiſchen Zieles. Aber anders¬ wo legt man hierauf eben kein Gewicht und dann ſteht gar nichts im Wege, daß nicht der echten Ehe die verſchiedenſten Probeverhältniſſe vorausgegangen ſein könnten.
Wer das jetzt oberflächlich anſchaut, der wird jeden Standpunkt der Moral verlieren und von himmelſchreiender Unkeuſchheit des jungen Volkes reden. Und doch hatten gerade auch dieſe Sachen ihre grobe Naturmoral. Dieſes freie Inter¬ regnum vor der Ehe ſteht in einem tiefen Kauſalzuſammenhang
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0263"n="249"/><p>Auch das iſt wieder ein Zug, der durch die ganze<lb/>
Menſchheitsgeſchichte heraufkommt, vom nackten Wilden, wo<lb/>
das junge Volk vielfältig eine Art Verband unter ſich bildet<lb/>
mit freieſten Sitten, an denen Niemand Anſtoß nimmt, —<lb/>
bis zu unſeren feierlichen Tanzvergnügen im Salon. Es hat<lb/>
ja den Beobachtern je nachdem das verzweifeltſte Kopfzerbrechen<lb/>
gemacht: dicht nebeneinander ſtießen ſie bei allen möglichen<lb/>
Völkern der großen Erdenarche auf die wahrhaft raffinierteſten<lb/>
Feſtigungen der Ehe, als ſei dieſe das ſchlechterdings einzig<lb/>
Echte und Heilige neben Mann und Frau — und dann wieder<lb/>
auf eine Ungebundenheit des Verkehrs der ledigen Jünglinge<lb/>
und Mädchen, die alledem Hohn zu ſprechen ſchien.</p><lb/><p>Bei den Negern in Afrika haſt du vielfach die ſchärfſte<lb/>
Auffaſſung von Treue der Ehefrau — und daneben gar kein<lb/>
Verſtändnis für klöſterliche Keuſchheit des noch unverheirateten<lb/>
Mädchens. Bei den Malayen in Lambok wird die Ehe¬<lb/>
brecherin mit dem Verführer zuſammengebunden und den<lb/>
Krokodilen vorgeworfen: das ledige junge Mädchen kann ſich<lb/>
mit Männern einlaſſen ſoviel es will. Wo das Männerhaus<lb/>
noch ſo abgeſchloſſen gegen alle Ehefrauen ragt, da ſpinnen<lb/>ſich doch, wie erzählt, die Fäden ohne Scheu zu den ledigen<lb/>
Mädchen hinüber. Überall kreuzt ja dieſen Zug jener andere<lb/>
feindlich: daß die Braut noch körperlich rein ſein ſoll beim<lb/>
Eheſchluß. Wo das ein Paragraph des Kaufkontraktes wird,<lb/>
muß natürlich der freie Mädchenverkehr eine Grenze haben<lb/>
weit unterhalb des eigentlichen erotiſchen Zieles. Aber anders¬<lb/>
wo legt man hierauf eben kein Gewicht und dann ſteht gar<lb/>
nichts im Wege, daß nicht der echten Ehe die verſchiedenſten<lb/>
Probeverhältniſſe vorausgegangen ſein könnten.</p><lb/><p>Wer das jetzt oberflächlich anſchaut, der wird jeden<lb/>
Standpunkt der Moral verlieren und von himmelſchreiender<lb/>
Unkeuſchheit des jungen Volkes reden. Und doch hatten gerade<lb/>
auch dieſe Sachen ihre grobe Naturmoral. Dieſes freie Inter¬<lb/>
regnum vor der Ehe ſteht in einem tiefen Kauſalzuſammenhang<lb/></p></div></body></text></TEI>
[249/0263]
Auch das iſt wieder ein Zug, der durch die ganze
Menſchheitsgeſchichte heraufkommt, vom nackten Wilden, wo
das junge Volk vielfältig eine Art Verband unter ſich bildet
mit freieſten Sitten, an denen Niemand Anſtoß nimmt, —
bis zu unſeren feierlichen Tanzvergnügen im Salon. Es hat
ja den Beobachtern je nachdem das verzweifeltſte Kopfzerbrechen
gemacht: dicht nebeneinander ſtießen ſie bei allen möglichen
Völkern der großen Erdenarche auf die wahrhaft raffinierteſten
Feſtigungen der Ehe, als ſei dieſe das ſchlechterdings einzig
Echte und Heilige neben Mann und Frau — und dann wieder
auf eine Ungebundenheit des Verkehrs der ledigen Jünglinge
und Mädchen, die alledem Hohn zu ſprechen ſchien.
Bei den Negern in Afrika haſt du vielfach die ſchärfſte
Auffaſſung von Treue der Ehefrau — und daneben gar kein
Verſtändnis für klöſterliche Keuſchheit des noch unverheirateten
Mädchens. Bei den Malayen in Lambok wird die Ehe¬
brecherin mit dem Verführer zuſammengebunden und den
Krokodilen vorgeworfen: das ledige junge Mädchen kann ſich
mit Männern einlaſſen ſoviel es will. Wo das Männerhaus
noch ſo abgeſchloſſen gegen alle Ehefrauen ragt, da ſpinnen
ſich doch, wie erzählt, die Fäden ohne Scheu zu den ledigen
Mädchen hinüber. Überall kreuzt ja dieſen Zug jener andere
feindlich: daß die Braut noch körperlich rein ſein ſoll beim
Eheſchluß. Wo das ein Paragraph des Kaufkontraktes wird,
muß natürlich der freie Mädchenverkehr eine Grenze haben
weit unterhalb des eigentlichen erotiſchen Zieles. Aber anders¬
wo legt man hierauf eben kein Gewicht und dann ſteht gar
nichts im Wege, daß nicht der echten Ehe die verſchiedenſten
Probeverhältniſſe vorausgegangen ſein könnten.
Wer das jetzt oberflächlich anſchaut, der wird jeden
Standpunkt der Moral verlieren und von himmelſchreiender
Unkeuſchheit des jungen Volkes reden. Und doch hatten gerade
auch dieſe Sachen ihre grobe Naturmoral. Dieſes freie Inter¬
regnum vor der Ehe ſteht in einem tiefen Kauſalzuſammenhang
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/263>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.