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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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ermöglicht einer kleinen Genossenschaft das Leben. Weitab bist
du noch von Tagen der Menschenliebe. Schlicht praktische Ge¬
sichtspunkte entscheiden. Gerade sie sind aber hier für das Soziale.
In jeder Höhle eint sich ein Menschenhäuflein, es eint sich auf
diese Höhle hin. Soviel bewohnbare Höhlen in einem Kalkgebirge
sind, soviel Sippen entstehen, jede streng für sich. Sie genügen
jede dem Sozialbedürfnis ihrer Teilnehmer, sie erschöpfen es.

Jenseits dieser Erfüllung tritt dann wieder das ältere
Prinzip in Kraft: die Abstoßung, das Feindliche. Sippe zu
Sippe steht wie Spinne zu Spinne, Maulwurf zu Maulwurf
im Alltagsleben. Bloß von höherer Stufe aus. Die Sippen
zu einander sind eben wieder höhere Individuen geworden, mit
dem ganzen Trotz des Individuums: Das bin ich -- und wer
sonst noch Ich sein will, den fresse ich. Immer wiederholt sich
so auf der höheren Stufe das frühere im Umriß wieder.

In diesem Falle sind es die uralten Naturspiele, die sich
neu konstituieren: Anziehung und Abstoßung. Die Sippenglieder
treten unter sich alle in ein Anziehungsverhältnis wie die Zellen
im Einzelindividuum, -- Sippe zu Sippe aber kehrt sich alle
Igelstacheln der Abstoßung zu. Der Fortschritt braucht eben
immer wieder beide Kräfte. Für die Sippe ist es unberechen¬
barer Vorteil, daß sie in sich Frieden hält, in Hilfe und
Arbeitsteilung eintritt. Aber es ist auch ihr Vorteil, daß sie
als Ganzes ein kleiner Körper bleibt, der in einer Höhle
gemeinsam Platz hat, daß sie ein gewisses Gebiet sich abgrenzt,
auf das sie ihr Wachstum, ihre Stärke einstellt.

Indessen die höheren Dinge gehen denn doch auch weiter,
genau wie bei Spinne und Maulwurf. Spinne wie Maulwurf
gingen zu Grunde, wenn sie sich dauernd selbst befruchteten.
Sie müssen also ihr Prinzip zeitweise verlassen und ihre In¬
dividualität zum Liebeszweck doch einer zweiten bedingt Preis
geben. Sei es auch nur eine Zelle ihres Leibes, die sie der
Mischung mit einer fremden, aus anderem Leibe stammenden
ausliefern, -- um diese eine kommen sie nicht herum.

ermöglicht einer kleinen Genoſſenſchaft das Leben. Weitab biſt
du noch von Tagen der Menſchenliebe. Schlicht praktiſche Ge¬
ſichtspunkte entſcheiden. Gerade ſie ſind aber hier für das Soziale.
In jeder Höhle eint ſich ein Menſchenhäuflein, es eint ſich auf
dieſe Höhle hin. Soviel bewohnbare Höhlen in einem Kalkgebirge
ſind, ſoviel Sippen entſtehen, jede ſtreng für ſich. Sie genügen
jede dem Sozialbedürfnis ihrer Teilnehmer, ſie erſchöpfen es.

Jenſeits dieſer Erfüllung tritt dann wieder das ältere
Prinzip in Kraft: die Abſtoßung, das Feindliche. Sippe zu
Sippe ſteht wie Spinne zu Spinne, Maulwurf zu Maulwurf
im Alltagsleben. Bloß von höherer Stufe aus. Die Sippen
zu einander ſind eben wieder höhere Individuen geworden, mit
dem ganzen Trotz des Individuums: Das bin ich — und wer
ſonſt noch Ich ſein will, den freſſe ich. Immer wiederholt ſich
ſo auf der höheren Stufe das frühere im Umriß wieder.

In dieſem Falle ſind es die uralten Naturſpiele, die ſich
neu konſtituieren: Anziehung und Abſtoßung. Die Sippenglieder
treten unter ſich alle in ein Anziehungsverhältnis wie die Zellen
im Einzelindividuum, — Sippe zu Sippe aber kehrt ſich alle
Igelſtacheln der Abſtoßung zu. Der Fortſchritt braucht eben
immer wieder beide Kräfte. Für die Sippe iſt es unberechen¬
barer Vorteil, daß ſie in ſich Frieden hält, in Hilfe und
Arbeitsteilung eintritt. Aber es iſt auch ihr Vorteil, daß ſie
als Ganzes ein kleiner Körper bleibt, der in einer Höhle
gemeinſam Platz hat, daß ſie ein gewiſſes Gebiet ſich abgrenzt,
auf das ſie ihr Wachstum, ihre Stärke einſtellt.

Indeſſen die höheren Dinge gehen denn doch auch weiter,
genau wie bei Spinne und Maulwurf. Spinne wie Maulwurf
gingen zu Grunde, wenn ſie ſich dauernd ſelbſt befruchteten.
Sie müſſen alſo ihr Prinzip zeitweiſe verlaſſen und ihre In¬
dividualität zum Liebeszweck doch einer zweiten bedingt Preis
geben. Sei es auch nur eine Zelle ihres Leibes, die ſie der
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[217/0231] ermöglicht einer kleinen Genoſſenſchaft das Leben. Weitab biſt du noch von Tagen der Menſchenliebe. Schlicht praktiſche Ge¬ ſichtspunkte entſcheiden. Gerade ſie ſind aber hier für das Soziale. In jeder Höhle eint ſich ein Menſchenhäuflein, es eint ſich auf dieſe Höhle hin. Soviel bewohnbare Höhlen in einem Kalkgebirge ſind, ſoviel Sippen entſtehen, jede ſtreng für ſich. Sie genügen jede dem Sozialbedürfnis ihrer Teilnehmer, ſie erſchöpfen es. Jenſeits dieſer Erfüllung tritt dann wieder das ältere Prinzip in Kraft: die Abſtoßung, das Feindliche. Sippe zu Sippe ſteht wie Spinne zu Spinne, Maulwurf zu Maulwurf im Alltagsleben. Bloß von höherer Stufe aus. Die Sippen zu einander ſind eben wieder höhere Individuen geworden, mit dem ganzen Trotz des Individuums: Das bin ich — und wer ſonſt noch Ich ſein will, den freſſe ich. Immer wiederholt ſich ſo auf der höheren Stufe das frühere im Umriß wieder. In dieſem Falle ſind es die uralten Naturſpiele, die ſich neu konſtituieren: Anziehung und Abſtoßung. Die Sippenglieder treten unter ſich alle in ein Anziehungsverhältnis wie die Zellen im Einzelindividuum, — Sippe zu Sippe aber kehrt ſich alle Igelſtacheln der Abſtoßung zu. Der Fortſchritt braucht eben immer wieder beide Kräfte. Für die Sippe iſt es unberechen¬ barer Vorteil, daß ſie in ſich Frieden hält, in Hilfe und Arbeitsteilung eintritt. Aber es iſt auch ihr Vorteil, daß ſie als Ganzes ein kleiner Körper bleibt, der in einer Höhle gemeinſam Platz hat, daß ſie ein gewiſſes Gebiet ſich abgrenzt, auf das ſie ihr Wachstum, ihre Stärke einſtellt. Indeſſen die höheren Dinge gehen denn doch auch weiter, genau wie bei Spinne und Maulwurf. Spinne wie Maulwurf gingen zu Grunde, wenn ſie ſich dauernd ſelbſt befruchteten. Sie müſſen alſo ihr Prinzip zeitweiſe verlaſſen und ihre In¬ dividualität zum Liebeszweck doch einer zweiten bedingt Preis geben. Sei es auch nur eine Zelle ihres Leibes, die ſie der Miſchung mit einer fremden, aus anderem Leibe ſtammenden ausliefern, — um dieſe eine kommen ſie nicht herum.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/231>, abgerufen am 05.07.2024.