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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Du erinnerst dich, wie auf ihr sich eigentlich die Ehe
ihrem Zweck nach aufgebaut hat. An dieser Stelle wurde die
"Liebe" zur "Ehe". Überall im Vogel- wie Säugetierreich aber,
wo du soziale Verbände stark hervortreten siehst, gewahrst du
auch Anfänge einer Sozialisierung der Kinderpflege, die diese
enge Eheform wieder überflüssig macht. Das Band zwischen
Eltern und ihren Kindern erweitert sich zu einer Solidarität
des ganzen Stammes allen Kindern gegenüber, -- ob das
Kind nun pflegende Eltern hat oder nicht: es gehört dem
Stamme, dem Volk, der Genossenschaft, und diese sorgen auf
alle Fälle für sein Wohlergehen.

In unzählbaren Scharen brüten auf ihren Klippen ge¬
meinsam die Tauchervögel, im Norden unseres Planeten, Alk
und Lumme, im Süden der Pinguin. Bei allen herrscht ein
solidarischer Gemeinschaftszug in der Kinderpflege, obwohl die
Einzelehe an sich noch nicht gestört ist. Wenn die Brützeit da
ist, scheint es, als genüge die eigene Leistung dem Triebe
nicht mehr. Die Pinguinweibchen gehen bei ihren Genossen
geradezu auf den Eierraub: sie mausen sich, wo sie können,
noch fremde Eier zu ihren eigenen. Dabei macht der Art¬
unterschied keine Grenze. Große Arten holen den kleinen ihre
Eier mit Gewalt vom Nest, so daß nachher Junge des ver¬
schiedensten Aussehens beisammen hocken. Bei den Lummen
genügt es nicht, daß Männchen und Weibchen bei jedem Ehe¬
paar abwechselnd brüten: alle überzähligen Junggesellen drängen
sich noch herzu und machen sich eine Ehre daraus, eine Weile
bald hier, bald da als Aushilfsbrüter mitzuthun. Wo solche
Sitten herrschen, ist es klar, daß das einzelne Elternpaar leicht
sich ganz verlieren kann, ohne daß doch die Jungen verkommen
müssen, wie es sonst Vogelregel ist. "Unbeschreibliches Leben
regt sich", erzählt Brehm von solcher Tauchvogelkolonie, "und
doch herrscht ewiger Frieden unter der Gemeinde, welche an
Anzahl die unserer größten Städte übertrifft. In diesen ge¬
schieht es, daß der Mensch an seinem verhungerten Mitbruder

Du erinnerſt dich, wie auf ihr ſich eigentlich die Ehe
ihrem Zweck nach aufgebaut hat. An dieſer Stelle wurde die
„Liebe“ zur „Ehe“. Überall im Vogel- wie Säugetierreich aber,
wo du ſoziale Verbände ſtark hervortreten ſiehſt, gewahrſt du
auch Anfänge einer Sozialiſierung der Kinderpflege, die dieſe
enge Eheform wieder überflüſſig macht. Das Band zwiſchen
Eltern und ihren Kindern erweitert ſich zu einer Solidarität
des ganzen Stammes allen Kindern gegenüber, — ob das
Kind nun pflegende Eltern hat oder nicht: es gehört dem
Stamme, dem Volk, der Genoſſenſchaft, und dieſe ſorgen auf
alle Fälle für ſein Wohlergehen.

In unzählbaren Scharen brüten auf ihren Klippen ge¬
meinſam die Tauchervögel, im Norden unſeres Planeten, Alk
und Lumme, im Süden der Pinguin. Bei allen herrſcht ein
ſolidariſcher Gemeinſchaftszug in der Kinderpflege, obwohl die
Einzelehe an ſich noch nicht geſtört iſt. Wenn die Brützeit da
iſt, ſcheint es, als genüge die eigene Leiſtung dem Triebe
nicht mehr. Die Pinguinweibchen gehen bei ihren Genoſſen
geradezu auf den Eierraub: ſie mauſen ſich, wo ſie können,
noch fremde Eier zu ihren eigenen. Dabei macht der Art¬
unterſchied keine Grenze. Große Arten holen den kleinen ihre
Eier mit Gewalt vom Neſt, ſo daß nachher Junge des ver¬
ſchiedenſten Ausſehens beiſammen hocken. Bei den Lummen
genügt es nicht, daß Männchen und Weibchen bei jedem Ehe¬
paar abwechſelnd brüten: alle überzähligen Junggeſellen drängen
ſich noch herzu und machen ſich eine Ehre daraus, eine Weile
bald hier, bald da als Aushilfsbrüter mitzuthun. Wo ſolche
Sitten herrſchen, iſt es klar, daß das einzelne Elternpaar leicht
ſich ganz verlieren kann, ohne daß doch die Jungen verkommen
müſſen, wie es ſonſt Vogelregel iſt. „Unbeſchreibliches Leben
regt ſich“, erzählt Brehm von ſolcher Tauchvogelkolonie, „und
doch herrſcht ewiger Frieden unter der Gemeinde, welche an
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[202/0216] Du erinnerſt dich, wie auf ihr ſich eigentlich die Ehe ihrem Zweck nach aufgebaut hat. An dieſer Stelle wurde die „Liebe“ zur „Ehe“. Überall im Vogel- wie Säugetierreich aber, wo du ſoziale Verbände ſtark hervortreten ſiehſt, gewahrſt du auch Anfänge einer Sozialiſierung der Kinderpflege, die dieſe enge Eheform wieder überflüſſig macht. Das Band zwiſchen Eltern und ihren Kindern erweitert ſich zu einer Solidarität des ganzen Stammes allen Kindern gegenüber, — ob das Kind nun pflegende Eltern hat oder nicht: es gehört dem Stamme, dem Volk, der Genoſſenſchaft, und dieſe ſorgen auf alle Fälle für ſein Wohlergehen. In unzählbaren Scharen brüten auf ihren Klippen ge¬ meinſam die Tauchervögel, im Norden unſeres Planeten, Alk und Lumme, im Süden der Pinguin. Bei allen herrſcht ein ſolidariſcher Gemeinſchaftszug in der Kinderpflege, obwohl die Einzelehe an ſich noch nicht geſtört iſt. Wenn die Brützeit da iſt, ſcheint es, als genüge die eigene Leiſtung dem Triebe nicht mehr. Die Pinguinweibchen gehen bei ihren Genoſſen geradezu auf den Eierraub: ſie mauſen ſich, wo ſie können, noch fremde Eier zu ihren eigenen. Dabei macht der Art¬ unterſchied keine Grenze. Große Arten holen den kleinen ihre Eier mit Gewalt vom Neſt, ſo daß nachher Junge des ver¬ ſchiedenſten Ausſehens beiſammen hocken. Bei den Lummen genügt es nicht, daß Männchen und Weibchen bei jedem Ehe¬ paar abwechſelnd brüten: alle überzähligen Junggeſellen drängen ſich noch herzu und machen ſich eine Ehre daraus, eine Weile bald hier, bald da als Aushilfsbrüter mitzuthun. Wo ſolche Sitten herrſchen, iſt es klar, daß das einzelne Elternpaar leicht ſich ganz verlieren kann, ohne daß doch die Jungen verkommen müſſen, wie es ſonſt Vogelregel iſt. „Unbeſchreibliches Leben regt ſich“, erzählt Brehm von ſolcher Tauchvogelkolonie, „und doch herrſcht ewiger Frieden unter der Gemeinde, welche an Anzahl die unſerer größten Städte übertrifft. In dieſen ge¬ ſchieht es, daß der Menſch an ſeinem verhungerten Mitbruder

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/216>, abgerufen am 28.11.2024.