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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Über ganz Central- und Nordost-Afrika dehnt sich diese
unheimliche Sitte aus. Bei den Gallas gilt sie und So¬
malis, in Massaua und bei den Beduinen nördlich Chartum
wie in Kordofan. Gewiß gehört sie zu den furchtbarsten
Bildern aus der Leidensgeschichte des Weibes auf Erden. Den
fremden Beobachtern ist immer am stärksten der Eindruck da¬
bei gewesen von der Erniedrigung des Weibes. Aber im
Grunde erscheint doch nur wieder das urgewaltige Ringen
des Menschen auch hier: das Titanenringen mit sich selbst,
mit der eigenen Natur, -- der Versuch, seine Wünsche, seine
Ideale, seine Moralvorschriften in den eigenen Körper hinein¬
zuschneiden, wie man eine Tättowierung in die Haut einritzt.

Ich habe dir die Geschichte eines niedrigen Krebstiers,
des Kelleresels, erzählt. Dort schuf die Natur abwechselnd
solche Verschlüsse und Wiederöffnungen. Es ist, als wolle der
Mensch dunkel dahin, aber mit welchen Mitteln!

Und doch: wenn man sieht, welche Mittel die Natur
braucht, um ihre Ziele zu erreichen, wie sie durch zuckende,
zerquälte Leiber, zerschmetterte Leichen, verglühte, vereiste, zer¬
pulverte Planeten wandert, -- dann darf man von dem
Menschen nicht zu viel verlangen in der Wahl seiner Mittel,
-- ist er doch selber nur ein Akt, eine Rolle, eine Ver¬
kleidung dieser Natur. Aber diese Natur steigt höher und
höher über diesen ihren Pfad. Und auch im Menschen glüht
schließlich durch allen Dunst von Blut und Wunden die un¬
endliche Sehnsucht, das unablässige Empor und Empor eines
reineren, harmonischeren Sittengesetzes.

Selbst diese armen infibulierten Mädchen sind Stationen
dazu. Sie sind das Extrem der Idee, daß mit dem absoluten
Körperverschluß außerhalb der individuellen erotischen Hingabe
die Moral dieser Hingabe allein zu retten sei. Absolute
Reinheit bis zur Ehe wurde vom Weibe gefordert. Hier hatte
sich die Moral festgesetzt. Aber die Schwäche des Menschen
stand auch vor Augen. Wie diese Reine erhalten in einem

Über ganz Central- und Nordoſt-Afrika dehnt ſich dieſe
unheimliche Sitte aus. Bei den Gallas gilt ſie und So¬
malis, in Maſſaua und bei den Beduinen nördlich Chartum
wie in Kordofan. Gewiß gehört ſie zu den furchtbarſten
Bildern aus der Leidensgeſchichte des Weibes auf Erden. Den
fremden Beobachtern iſt immer am ſtärkſten der Eindruck da¬
bei geweſen von der Erniedrigung des Weibes. Aber im
Grunde erſcheint doch nur wieder das urgewaltige Ringen
des Menſchen auch hier: das Titanenringen mit ſich ſelbſt,
mit der eigenen Natur, — der Verſuch, ſeine Wünſche, ſeine
Ideale, ſeine Moralvorſchriften in den eigenen Körper hinein¬
zuſchneiden, wie man eine Tättowierung in die Haut einritzt.

Ich habe dir die Geſchichte eines niedrigen Krebstiers,
des Kellereſels, erzählt. Dort ſchuf die Natur abwechſelnd
ſolche Verſchlüſſe und Wiederöffnungen. Es iſt, als wolle der
Menſch dunkel dahin, aber mit welchen Mitteln!

Und doch: wenn man ſieht, welche Mittel die Natur
braucht, um ihre Ziele zu erreichen, wie ſie durch zuckende,
zerquälte Leiber, zerſchmetterte Leichen, verglühte, vereiſte, zer¬
pulverte Planeten wandert, — dann darf man von dem
Menſchen nicht zu viel verlangen in der Wahl ſeiner Mittel,
— iſt er doch ſelber nur ein Akt, eine Rolle, eine Ver¬
kleidung dieſer Natur. Aber dieſe Natur ſteigt höher und
höher über dieſen ihren Pfad. Und auch im Menſchen glüht
ſchließlich durch allen Dunſt von Blut und Wunden die un¬
endliche Sehnſucht, das unabläſſige Empor und Empor eines
reineren, harmoniſcheren Sittengeſetzes.

Selbſt dieſe armen infibulierten Mädchen ſind Stationen
dazu. Sie ſind das Extrem der Idee, daß mit dem abſoluten
Körperverſchluß außerhalb der individuellen erotiſchen Hingabe
die Moral dieſer Hingabe allein zu retten ſei. Abſolute
Reinheit bis zur Ehe wurde vom Weibe gefordert. Hier hatte
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ſtand auch vor Augen. Wie dieſe Reine erhalten in einem

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[152/0166] Über ganz Central- und Nordoſt-Afrika dehnt ſich dieſe unheimliche Sitte aus. Bei den Gallas gilt ſie und So¬ malis, in Maſſaua und bei den Beduinen nördlich Chartum wie in Kordofan. Gewiß gehört ſie zu den furchtbarſten Bildern aus der Leidensgeſchichte des Weibes auf Erden. Den fremden Beobachtern iſt immer am ſtärkſten der Eindruck da¬ bei geweſen von der Erniedrigung des Weibes. Aber im Grunde erſcheint doch nur wieder das urgewaltige Ringen des Menſchen auch hier: das Titanenringen mit ſich ſelbſt, mit der eigenen Natur, — der Verſuch, ſeine Wünſche, ſeine Ideale, ſeine Moralvorſchriften in den eigenen Körper hinein¬ zuſchneiden, wie man eine Tättowierung in die Haut einritzt. Ich habe dir die Geſchichte eines niedrigen Krebstiers, des Kellereſels, erzählt. Dort ſchuf die Natur abwechſelnd ſolche Verſchlüſſe und Wiederöffnungen. Es iſt, als wolle der Menſch dunkel dahin, aber mit welchen Mitteln! Und doch: wenn man ſieht, welche Mittel die Natur braucht, um ihre Ziele zu erreichen, wie ſie durch zuckende, zerquälte Leiber, zerſchmetterte Leichen, verglühte, vereiſte, zer¬ pulverte Planeten wandert, — dann darf man von dem Menſchen nicht zu viel verlangen in der Wahl ſeiner Mittel, — iſt er doch ſelber nur ein Akt, eine Rolle, eine Ver¬ kleidung dieſer Natur. Aber dieſe Natur ſteigt höher und höher über dieſen ihren Pfad. Und auch im Menſchen glüht ſchließlich durch allen Dunſt von Blut und Wunden die un¬ endliche Sehnſucht, das unabläſſige Empor und Empor eines reineren, harmoniſcheren Sittengeſetzes. Selbſt dieſe armen infibulierten Mädchen ſind Stationen dazu. Sie ſind das Extrem der Idee, daß mit dem abſoluten Körperverſchluß außerhalb der individuellen erotiſchen Hingabe die Moral dieſer Hingabe allein zu retten ſei. Abſolute Reinheit bis zur Ehe wurde vom Weibe gefordert. Hier hatte ſich die Moral feſtgeſetzt. Aber die Schwäche des Menſchen ſtand auch vor Augen. Wie dieſe Reine erhalten in einem

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/166>, abgerufen am 27.11.2024.