Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

kleinen Windzügen im gewöhnlichen Wellenspiel absolut über
den Kopf gehen.

Zerrte die Moral das Tuch beständig nach oben und
feilschte der Frühling beständig um eine Ecke mehr abwärts,
so nahm die Kunst ihrem Menschen ruhig sogar das Feigen¬
blatt fort und lachte jeden gründlich aus, der es wieder
aufkleben wollte. Wenn die Bayonette kamen, hat sie's ja
gelegentlich sich gefallen lassen müssen, aber ihr Lachen ist noch
jedesmal auf die Dauer so furchtbar gewesen, daß die Posten
flüchteten: es war der Schrei des großen Pan in der Menschheit,
der aus dem Walde kam.

Bei diesem unbeirrten Vorgehen hat aber die Kunst dem
Erotischen einen separaten, ganz unberechenbar großen Vorteil
angedeihen lassen.

Je mehr nämlich mit den großen geistigen Aufgaben der
Menschheit in der Kultur die Moral eine absolut notwendigste
Schutzmaßregel wurde und also im ganzen öffentlichen Leben
ein Prä vor allem noch so heißen Liebesfrühlingshauch bekam,
-- desto mehr verschwand mit dem nackten Menschenkörper
auch das tiefe, feine Gefühl für ein fortschreitend vervollkommnetes
Ideal dieses nackten Körpers.

Je mehr der Leib wieder dauernd in Kleider verpackt
wurde und die Nacktheit, wie es schließlich Wunsch der extremen
Moral gewesen wäre, womöglich nur noch im dunklen Zimmer
bei Nacht erschien, -- desto mehr mußte sich notwendig der
Sinn für die Nüancen dieser Nacktheit abstumpfen. Wenn etwa
die weibliche Brust oder die Rückenlinie oder Schenkellinie
gar nicht mehr öffentlich, in offener Himmelssonne und in
freier Muskelbewegung gesehen wurde, so verlor endlich das
Auge, verlor die Phantasie jede Kraft, die Merkmale der
wahren Schönheit darin zu ergreifen. Die erotische Wahl wurde
ideallos, verlor die Direktive auf das Beste, Harmonischste.
Damit sank aber nach dem einfachen natürlichen Gesetz die
Körperschönheit selber. Das Nackte, unbeachtet, mochte unter

kleinen Windzügen im gewöhnlichen Wellenſpiel abſolut über
den Kopf gehen.

Zerrte die Moral das Tuch beſtändig nach oben und
feilſchte der Frühling beſtändig um eine Ecke mehr abwärts,
ſo nahm die Kunſt ihrem Menſchen ruhig ſogar das Feigen¬
blatt fort und lachte jeden gründlich aus, der es wieder
aufkleben wollte. Wenn die Bayonette kamen, hat ſie's ja
gelegentlich ſich gefallen laſſen müſſen, aber ihr Lachen iſt noch
jedesmal auf die Dauer ſo furchtbar geweſen, daß die Poſten
flüchteten: es war der Schrei des großen Pan in der Menſchheit,
der aus dem Walde kam.

Bei dieſem unbeirrten Vorgehen hat aber die Kunſt dem
Erotiſchen einen ſeparaten, ganz unberechenbar großen Vorteil
angedeihen laſſen.

Je mehr nämlich mit den großen geiſtigen Aufgaben der
Menſchheit in der Kultur die Moral eine abſolut notwendigſte
Schutzmaßregel wurde und alſo im ganzen öffentlichen Leben
ein Prä vor allem noch ſo heißen Liebesfrühlingshauch bekam,
— deſto mehr verſchwand mit dem nackten Menſchenkörper
auch das tiefe, feine Gefühl für ein fortſchreitend vervollkommnetes
Ideal dieſes nackten Körpers.

Je mehr der Leib wieder dauernd in Kleider verpackt
wurde und die Nacktheit, wie es ſchließlich Wunſch der extremen
Moral geweſen wäre, womöglich nur noch im dunklen Zimmer
bei Nacht erſchien, — deſto mehr mußte ſich notwendig der
Sinn für die Nüancen dieſer Nacktheit abſtumpfen. Wenn etwa
die weibliche Bruſt oder die Rückenlinie oder Schenkellinie
gar nicht mehr öffentlich, in offener Himmelsſonne und in
freier Muskelbewegung geſehen wurde, ſo verlor endlich das
Auge, verlor die Phantaſie jede Kraft, die Merkmale der
wahren Schönheit darin zu ergreifen. Die erotiſche Wahl wurde
ideallos, verlor die Direktive auf das Beſte, Harmoniſchſte.
Damit ſank aber nach dem einfachen natürlichen Geſetz die
Körperſchönheit ſelber. Das Nackte, unbeachtet, mochte unter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0150" n="136"/>
kleinen Windzügen im gewöhnlichen Wellen&#x017F;piel ab&#x017F;olut über<lb/>
den Kopf gehen.</p><lb/>
        <p>Zerrte die Moral das Tuch be&#x017F;tändig nach oben und<lb/>
feil&#x017F;chte der Frühling be&#x017F;tändig um eine Ecke mehr abwärts,<lb/>
&#x017F;o nahm die Kun&#x017F;t <hi rendition="#g">ihrem</hi> Men&#x017F;chen ruhig &#x017F;ogar das Feigen¬<lb/>
blatt fort und lachte jeden gründlich aus, der es wieder<lb/>
aufkleben wollte. Wenn die Bayonette kamen, hat &#x017F;ie's ja<lb/>
gelegentlich &#x017F;ich gefallen la&#x017F;&#x017F;en mü&#x017F;&#x017F;en, aber ihr Lachen i&#x017F;t noch<lb/>
jedesmal auf die Dauer &#x017F;o furchtbar gewe&#x017F;en, daß die Po&#x017F;ten<lb/>
flüchteten: es war der Schrei des großen Pan in der Men&#x017F;chheit,<lb/>
der aus dem Walde kam.</p><lb/>
        <p>Bei die&#x017F;em unbeirrten Vorgehen hat aber die Kun&#x017F;t dem<lb/>
Eroti&#x017F;chen einen &#x017F;eparaten, ganz unberechenbar großen Vorteil<lb/>
angedeihen la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Je mehr nämlich mit den großen gei&#x017F;tigen Aufgaben der<lb/>
Men&#x017F;chheit in der Kultur die Moral eine ab&#x017F;olut notwendig&#x017F;te<lb/>
Schutzmaßregel wurde und al&#x017F;o im ganzen öffentlichen Leben<lb/>
ein Prä vor allem noch &#x017F;o heißen Liebesfrühlingshauch bekam,<lb/>
&#x2014; de&#x017F;to mehr ver&#x017F;chwand mit dem nackten Men&#x017F;chenkörper<lb/>
auch das tiefe, feine Gefühl für ein fort&#x017F;chreitend vervollkommnetes<lb/><hi rendition="#g">Ideal</hi> die&#x017F;es nackten Körpers.</p><lb/>
        <p>Je mehr der Leib wieder dauernd in Kleider verpackt<lb/>
wurde und die Nacktheit, wie es &#x017F;chließlich Wun&#x017F;ch der extremen<lb/>
Moral gewe&#x017F;en wäre, womöglich nur noch im dunklen Zimmer<lb/>
bei Nacht er&#x017F;chien, &#x2014; de&#x017F;to mehr mußte &#x017F;ich notwendig der<lb/>
Sinn für die Nüancen die&#x017F;er Nacktheit ab&#x017F;tumpfen. Wenn etwa<lb/>
die weibliche Bru&#x017F;t oder die Rückenlinie oder Schenkellinie<lb/>
gar nicht mehr öffentlich, in offener Himmels&#x017F;onne und in<lb/>
freier Muskelbewegung ge&#x017F;ehen wurde, &#x017F;o verlor endlich das<lb/>
Auge, verlor die Phanta&#x017F;ie jede Kraft, die Merkmale der<lb/>
wahren Schönheit darin zu ergreifen. Die eroti&#x017F;che Wahl wurde<lb/>
ideallos, verlor die Direktive auf das Be&#x017F;te, Harmoni&#x017F;ch&#x017F;te.<lb/>
Damit &#x017F;ank aber nach dem einfachen natürlichen Ge&#x017F;etz die<lb/>
Körper&#x017F;chönheit &#x017F;elber. Das Nackte, unbeachtet, mochte unter<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0150] kleinen Windzügen im gewöhnlichen Wellenſpiel abſolut über den Kopf gehen. Zerrte die Moral das Tuch beſtändig nach oben und feilſchte der Frühling beſtändig um eine Ecke mehr abwärts, ſo nahm die Kunſt ihrem Menſchen ruhig ſogar das Feigen¬ blatt fort und lachte jeden gründlich aus, der es wieder aufkleben wollte. Wenn die Bayonette kamen, hat ſie's ja gelegentlich ſich gefallen laſſen müſſen, aber ihr Lachen iſt noch jedesmal auf die Dauer ſo furchtbar geweſen, daß die Poſten flüchteten: es war der Schrei des großen Pan in der Menſchheit, der aus dem Walde kam. Bei dieſem unbeirrten Vorgehen hat aber die Kunſt dem Erotiſchen einen ſeparaten, ganz unberechenbar großen Vorteil angedeihen laſſen. Je mehr nämlich mit den großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit in der Kultur die Moral eine abſolut notwendigſte Schutzmaßregel wurde und alſo im ganzen öffentlichen Leben ein Prä vor allem noch ſo heißen Liebesfrühlingshauch bekam, — deſto mehr verſchwand mit dem nackten Menſchenkörper auch das tiefe, feine Gefühl für ein fortſchreitend vervollkommnetes Ideal dieſes nackten Körpers. Je mehr der Leib wieder dauernd in Kleider verpackt wurde und die Nacktheit, wie es ſchließlich Wunſch der extremen Moral geweſen wäre, womöglich nur noch im dunklen Zimmer bei Nacht erſchien, — deſto mehr mußte ſich notwendig der Sinn für die Nüancen dieſer Nacktheit abſtumpfen. Wenn etwa die weibliche Bruſt oder die Rückenlinie oder Schenkellinie gar nicht mehr öffentlich, in offener Himmelsſonne und in freier Muskelbewegung geſehen wurde, ſo verlor endlich das Auge, verlor die Phantaſie jede Kraft, die Merkmale der wahren Schönheit darin zu ergreifen. Die erotiſche Wahl wurde ideallos, verlor die Direktive auf das Beſte, Harmoniſchſte. Damit ſank aber nach dem einfachen natürlichen Geſetz die Körperſchönheit ſelber. Das Nackte, unbeachtet, mochte unter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/150
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/150>, abgerufen am 23.11.2024.