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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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seinen Kleidern verfallen wie ein armer verwahrloster Gefangener
im schwarzen Kerker, ohne daß die erotische Wahl nachhalf.

In dem Pendelschlag der Kulturgeschichte kehren immer
Zeiten wieder, wo in dieser Hinsicht wirklich ein Tiefstand
droht, das Seil ganz nahe am Boden schleift und der Leib
in seinem Rock zu degenerieren beginnt.

In allen solchen Zeiten der Gefahr aber ist es die Kunst
gewesen, die, wie sie einst dem Erotischen das Ideal der
Nacktheit in die Hände gespielt, jetzt auch dieses Ideal in
seinem Fortschritt zu retten gesucht hat. Zogen wir uns die
Kleider bis über die Ohren und hatten das Erotische glücklich
so gut wie ganz hier vertrieben, so warf uns die Kunst plötz¬
lich doch den splitterfasernackten Menschen wieder hin und zwar
ohne direkten erotischen Zweck. Und sie setzte uns zugleich
das Ideal dieses Nacktmenschen vor Augen, paukte es uns ein
im Moment, da wir im Leben ihn fast verloren hatten. Fern
von der Realität des Nackten um uns her, an uns selbst,
wurden wir zwangsweise vollgefüttert bis zum Rande mit
dem Idealbilde einer schon höheren Realität. Der nackte Adam
fing an, uns unbekannt zu werden, und dafür fütterte die Kunst
uns mit Praxiteles und Michelangelo. Vor allem das Griechentum
ist es gewesen, das uns zwei Jahrtausende lang so den nackten
Menschen in einer verklärten Schöne durchgerettet hat, daß
auch unsere erotische Phantasie immer einigermaßen noch daran
satt werden und leistungsfähig bleiben konnte.

Auf die Dauer hat freilich, wie man sich nicht verhehlen
darf, auch diese Hilfsarbeit der Kunst ihre Grenzen.

Gerade wir heute kommen trotz all unserer Kunst und
Kunstachtung aus einem tiefen Wellenthal der Körperschau,
in dem uns die Kunstideale keineswegs immer ganz geholfen
haben. Gerade aus dem Kontrast des nackten Kunstideals
und der immer mehr zugeknöpften Kleidertracht sind sogar bei
uns unmittelbare Vergewaltigungen des Körpers in Einzelfällen
erwachsen.

ſeinen Kleidern verfallen wie ein armer verwahrloſter Gefangener
im ſchwarzen Kerker, ohne daß die erotiſche Wahl nachhalf.

In dem Pendelſchlag der Kulturgeſchichte kehren immer
Zeiten wieder, wo in dieſer Hinſicht wirklich ein Tiefſtand
droht, das Seil ganz nahe am Boden ſchleift und der Leib
in ſeinem Rock zu degenerieren beginnt.

In allen ſolchen Zeiten der Gefahr aber iſt es die Kunſt
geweſen, die, wie ſie einſt dem Erotiſchen das Ideal der
Nacktheit in die Hände geſpielt, jetzt auch dieſes Ideal in
ſeinem Fortſchritt zu retten geſucht hat. Zogen wir uns die
Kleider bis über die Ohren und hatten das Erotiſche glücklich
ſo gut wie ganz hier vertrieben, ſo warf uns die Kunſt plötz¬
lich doch den ſplitterfaſernackten Menſchen wieder hin und zwar
ohne direkten erotiſchen Zweck. Und ſie ſetzte uns zugleich
das Ideal dieſes Nacktmenſchen vor Augen, paukte es uns ein
im Moment, da wir im Leben ihn faſt verloren hatten. Fern
von der Realität des Nackten um uns her, an uns ſelbſt,
wurden wir zwangsweiſe vollgefüttert bis zum Rande mit
dem Idealbilde einer ſchon höheren Realität. Der nackte Adam
fing an, uns unbekannt zu werden, und dafür fütterte die Kunſt
uns mit Praxiteles und Michelangelo. Vor allem das Griechentum
iſt es geweſen, das uns zwei Jahrtauſende lang ſo den nackten
Menſchen in einer verklärten Schöne durchgerettet hat, daß
auch unſere erotiſche Phantaſie immer einigermaßen noch daran
ſatt werden und leiſtungsfähig bleiben konnte.

Auf die Dauer hat freilich, wie man ſich nicht verhehlen
darf, auch dieſe Hilfsarbeit der Kunſt ihre Grenzen.

Gerade wir heute kommen trotz all unſerer Kunſt und
Kunſtachtung aus einem tiefen Wellenthal der Körperſchau,
in dem uns die Kunſtideale keineswegs immer ganz geholfen
haben. Gerade aus dem Kontraſt des nackten Kunſtideals
und der immer mehr zugeknöpften Kleidertracht ſind ſogar bei
uns unmittelbare Vergewaltigungen des Körpers in Einzelfällen
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[137/0151] ſeinen Kleidern verfallen wie ein armer verwahrloſter Gefangener im ſchwarzen Kerker, ohne daß die erotiſche Wahl nachhalf. In dem Pendelſchlag der Kulturgeſchichte kehren immer Zeiten wieder, wo in dieſer Hinſicht wirklich ein Tiefſtand droht, das Seil ganz nahe am Boden ſchleift und der Leib in ſeinem Rock zu degenerieren beginnt. In allen ſolchen Zeiten der Gefahr aber iſt es die Kunſt geweſen, die, wie ſie einſt dem Erotiſchen das Ideal der Nacktheit in die Hände geſpielt, jetzt auch dieſes Ideal in ſeinem Fortſchritt zu retten geſucht hat. Zogen wir uns die Kleider bis über die Ohren und hatten das Erotiſche glücklich ſo gut wie ganz hier vertrieben, ſo warf uns die Kunſt plötz¬ lich doch den ſplitterfaſernackten Menſchen wieder hin und zwar ohne direkten erotiſchen Zweck. Und ſie ſetzte uns zugleich das Ideal dieſes Nacktmenſchen vor Augen, paukte es uns ein im Moment, da wir im Leben ihn faſt verloren hatten. Fern von der Realität des Nackten um uns her, an uns ſelbſt, wurden wir zwangsweiſe vollgefüttert bis zum Rande mit dem Idealbilde einer ſchon höheren Realität. Der nackte Adam fing an, uns unbekannt zu werden, und dafür fütterte die Kunſt uns mit Praxiteles und Michelangelo. Vor allem das Griechentum iſt es geweſen, das uns zwei Jahrtauſende lang ſo den nackten Menſchen in einer verklärten Schöne durchgerettet hat, daß auch unſere erotiſche Phantaſie immer einigermaßen noch daran ſatt werden und leiſtungsfähig bleiben konnte. Auf die Dauer hat freilich, wie man ſich nicht verhehlen darf, auch dieſe Hilfsarbeit der Kunſt ihre Grenzen. Gerade wir heute kommen trotz all unſerer Kunſt und Kunſtachtung aus einem tiefen Wellenthal der Körperſchau, in dem uns die Kunſtideale keineswegs immer ganz geholfen haben. Gerade aus dem Kontraſt des nackten Kunſtideals und der immer mehr zugeknöpften Kleidertracht ſind ſogar bei uns unmittelbare Vergewaltigungen des Körpers in Einzelfällen erwachſen.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/151>, abgerufen am 17.05.2024.