Die Geschichte aller Kleidermoden ist ein unausgesetzter Kampf dieses entkleidenden Eros mit der verhüllenden Moral. Die Moral will die Mischliebe isolieren und greift dabei bis auf die Distanceliebe über. Die ebenso notwendige Liebeswahl und Liebeslockung will die Distanceliebe retten und bedroht dabei die Moral. Das ist ein ewiges Auf- und Abpendeln, durch das die Menschheit sich durchschlängeln mußte, so gut sie konnte.
Nun erstand in diesem Zwist um die Nacktheit aber ein großer Helfer der Nacktheitsseite in der Kunst. Vergessen wir nicht, daß der nackte Mensch im Sinne körperlicher Enthaarung wahrscheinlich nie zu stande gekommen wäre ohne die Beihülfe des ästhetischen Triebes im Menschen, ohne jenen urgeheimnis¬ vollen Rhythmotropismus, der die schönere, harmonisch reinere Linie instinktiv vorzog. Je mehr dieser Rhythmotropismus sich aktiv im Werkzeugmenschen in "Kunst" umsetzte, desto weniger hatte diese Kunst Lust, auf ihr altes Konto zu verzichten.
Mit der größten Energie reklamierte sie ihren nackten Menschenkörper für sich. Sie ging weder die grobe Nützlich¬ keitsfrage etwas an, die aus Kältegründen diesen Leib mit Kleidern bedeckte, noch die feinere, die aus erotischen Schon¬ gründen ihn verhüllte. Der nackte Körper in seiner vollen Nacktheit bis in die kritischsten Winkel hinein war einfach ein harmonisch schöner Gegenstand und als solcher eine unschätzbare Domäne der Kunst, die sie sich nie mehr entreißen ließ. Nichts hat aber in der Welt bis in die höchste Kultur hinein so dämonisch seinen geraden Weg verfolgt wie die Kunst. Sie hat nicht gemarktet, gefeilscht, sich auf ein Abwägen von Nützlichkeitsgründen gegeneinander eingelassen. Sie ist durch¬ gebrochen als Inkarnation einer tiefsten Nützlichkeit des Harmonischeren um jeden Preis, unaufhaltsam vor allen anderen Triebgründen und allen Bewußtseinsgründen wie eine jener ungeheuren Stoßwellen, mit denen sich eine Niveau¬ änderung auf einem ganzen See ausgleicht und die allen
Die Geſchichte aller Kleidermoden iſt ein unausgeſetzter Kampf dieſes entkleidenden Eros mit der verhüllenden Moral. Die Moral will die Miſchliebe iſolieren und greift dabei bis auf die Diſtanceliebe über. Die ebenſo notwendige Liebeswahl und Liebeslockung will die Diſtanceliebe retten und bedroht dabei die Moral. Das iſt ein ewiges Auf- und Abpendeln, durch das die Menſchheit ſich durchſchlängeln mußte, ſo gut ſie konnte.
Nun erſtand in dieſem Zwiſt um die Nacktheit aber ein großer Helfer der Nacktheitsſeite in der Kunſt. Vergeſſen wir nicht, daß der nackte Menſch im Sinne körperlicher Enthaarung wahrſcheinlich nie zu ſtande gekommen wäre ohne die Beihülfe des äſthetiſchen Triebes im Menſchen, ohne jenen urgeheimnis¬ vollen Rhythmotropismus, der die ſchönere, harmoniſch reinere Linie inſtinktiv vorzog. Je mehr dieſer Rhythmotropismus ſich aktiv im Werkzeugmenſchen in „Kunſt“ umſetzte, deſto weniger hatte dieſe Kunſt Luſt, auf ihr altes Konto zu verzichten.
Mit der größten Energie reklamierte ſie ihren nackten Menſchenkörper für ſich. Sie ging weder die grobe Nützlich¬ keitsfrage etwas an, die aus Kältegründen dieſen Leib mit Kleidern bedeckte, noch die feinere, die aus erotiſchen Schon¬ gründen ihn verhüllte. Der nackte Körper in ſeiner vollen Nacktheit bis in die kritiſchſten Winkel hinein war einfach ein harmoniſch ſchöner Gegenſtand und als ſolcher eine unſchätzbare Domäne der Kunſt, die ſie ſich nie mehr entreißen ließ. Nichts hat aber in der Welt bis in die höchſte Kultur hinein ſo dämoniſch ſeinen geraden Weg verfolgt wie die Kunſt. Sie hat nicht gemarktet, gefeilſcht, ſich auf ein Abwägen von Nützlichkeitsgründen gegeneinander eingelaſſen. Sie iſt durch¬ gebrochen als Inkarnation einer tiefſten Nützlichkeit des Harmoniſcheren um jeden Preis, unaufhaltſam vor allen anderen Triebgründen und allen Bewußtſeinsgründen wie eine jener ungeheuren Stoßwellen, mit denen ſich eine Niveau¬ änderung auf einem ganzen See ausgleicht und die allen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0149"n="135"/><p>Die Geſchichte aller Kleidermoden iſt ein unausgeſetzter<lb/>
Kampf dieſes entkleidenden Eros mit der verhüllenden Moral.<lb/>
Die Moral will die Miſchliebe iſolieren und greift dabei bis<lb/>
auf die Diſtanceliebe über. Die ebenſo notwendige Liebeswahl<lb/>
und Liebeslockung will die Diſtanceliebe retten und bedroht<lb/>
dabei die Moral. Das iſt ein ewiges Auf- und Abpendeln,<lb/>
durch das die Menſchheit ſich durchſchlängeln mußte, ſo gut<lb/>ſie konnte.</p><lb/><p>Nun erſtand in dieſem Zwiſt um die Nacktheit aber ein<lb/>
großer Helfer der Nacktheitsſeite in der Kunſt. Vergeſſen wir<lb/>
nicht, daß der nackte Menſch im Sinne körperlicher Enthaarung<lb/>
wahrſcheinlich nie zu ſtande gekommen wäre ohne die Beihülfe<lb/>
des äſthetiſchen Triebes im Menſchen, ohne jenen urgeheimnis¬<lb/>
vollen Rhythmotropismus, der die ſchönere, harmoniſch reinere<lb/>
Linie inſtinktiv vorzog. Je mehr dieſer Rhythmotropismus ſich<lb/>
aktiv im Werkzeugmenſchen in „Kunſt“ umſetzte, deſto weniger<lb/>
hatte dieſe Kunſt Luſt, auf ihr altes Konto zu verzichten.</p><lb/><p>Mit der größten Energie reklamierte ſie ihren nackten<lb/>
Menſchenkörper für ſich. Sie ging weder die grobe Nützlich¬<lb/>
keitsfrage etwas an, die aus Kältegründen dieſen Leib mit<lb/>
Kleidern bedeckte, noch die feinere, die aus erotiſchen Schon¬<lb/>
gründen ihn verhüllte. Der nackte Körper in ſeiner vollen<lb/>
Nacktheit bis in die kritiſchſten Winkel hinein war einfach ein<lb/>
harmoniſch ſchöner Gegenſtand und als ſolcher eine unſchätzbare<lb/>
Domäne der Kunſt, die ſie ſich nie mehr entreißen ließ. Nichts<lb/>
hat aber in der Welt bis in die höchſte Kultur hinein ſo<lb/>
dämoniſch ſeinen geraden Weg verfolgt wie die Kunſt. Sie<lb/>
hat nicht gemarktet, gefeilſcht, ſich auf ein Abwägen von<lb/>
Nützlichkeitsgründen gegeneinander eingelaſſen. Sie iſt durch¬<lb/>
gebrochen als Inkarnation einer tiefſten Nützlichkeit des<lb/>
Harmoniſcheren um jeden Preis, unaufhaltſam vor allen<lb/>
anderen Triebgründen und allen Bewußtſeinsgründen wie eine<lb/>
jener ungeheuren Stoßwellen, mit denen ſich eine Niveau¬<lb/>
änderung auf einem ganzen See ausgleicht und die allen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[135/0149]
Die Geſchichte aller Kleidermoden iſt ein unausgeſetzter
Kampf dieſes entkleidenden Eros mit der verhüllenden Moral.
Die Moral will die Miſchliebe iſolieren und greift dabei bis
auf die Diſtanceliebe über. Die ebenſo notwendige Liebeswahl
und Liebeslockung will die Diſtanceliebe retten und bedroht
dabei die Moral. Das iſt ein ewiges Auf- und Abpendeln,
durch das die Menſchheit ſich durchſchlängeln mußte, ſo gut
ſie konnte.
Nun erſtand in dieſem Zwiſt um die Nacktheit aber ein
großer Helfer der Nacktheitsſeite in der Kunſt. Vergeſſen wir
nicht, daß der nackte Menſch im Sinne körperlicher Enthaarung
wahrſcheinlich nie zu ſtande gekommen wäre ohne die Beihülfe
des äſthetiſchen Triebes im Menſchen, ohne jenen urgeheimnis¬
vollen Rhythmotropismus, der die ſchönere, harmoniſch reinere
Linie inſtinktiv vorzog. Je mehr dieſer Rhythmotropismus ſich
aktiv im Werkzeugmenſchen in „Kunſt“ umſetzte, deſto weniger
hatte dieſe Kunſt Luſt, auf ihr altes Konto zu verzichten.
Mit der größten Energie reklamierte ſie ihren nackten
Menſchenkörper für ſich. Sie ging weder die grobe Nützlich¬
keitsfrage etwas an, die aus Kältegründen dieſen Leib mit
Kleidern bedeckte, noch die feinere, die aus erotiſchen Schon¬
gründen ihn verhüllte. Der nackte Körper in ſeiner vollen
Nacktheit bis in die kritiſchſten Winkel hinein war einfach ein
harmoniſch ſchöner Gegenſtand und als ſolcher eine unſchätzbare
Domäne der Kunſt, die ſie ſich nie mehr entreißen ließ. Nichts
hat aber in der Welt bis in die höchſte Kultur hinein ſo
dämoniſch ſeinen geraden Weg verfolgt wie die Kunſt. Sie
hat nicht gemarktet, gefeilſcht, ſich auf ein Abwägen von
Nützlichkeitsgründen gegeneinander eingelaſſen. Sie iſt durch¬
gebrochen als Inkarnation einer tiefſten Nützlichkeit des
Harmoniſcheren um jeden Preis, unaufhaltſam vor allen
anderen Triebgründen und allen Bewußtſeinsgründen wie eine
jener ungeheuren Stoßwellen, mit denen ſich eine Niveau¬
änderung auf einem ganzen See ausgleicht und die allen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/149>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.