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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Samenzellen des Mannes, von der wir geredet haben. Hier
stürzen die Hekatomben hinab, die alle ohne jeden vagsten
Streifen von Hoffnungsrot dem sicheren Verderben geweiht sind.
Milliarden und Milliarden Akte, deren Sinn die Wollust ist
und überhaupt nicht mehr die Zeugung. An diesem neuen Sinn
aber sterbend Milchstraßen um Milchstraßen sehnenden Lebens,
-- in jedem verschmachtenden Samentierchen eine Welt.

Und ein dumpfes Ahnen durchbebt die Menschheit, daß
wirklich in diesem neuen Sinn ein Unsinn sei. Alle Schranken
verschieben sich. Nachdem die Wollust sich im Akte selbst von
der Mischliebe losgesagt und der Distanceliebe als einer gleich¬
berechtigten verschworen hat, erhebt sich diese Distanceliebe über
sie zur Despotin in den wunderlichsten Akten eigenster Erfindung,
die nicht einmal mehr das äußere Bild wahren. Auf einsam
verschlagener Lebensplanke entdecken arme Seelen, daß die
Wollust sich sogar finden läßt ohne ein zweites Wesen. Ganz
allein. Oder es wird ein wahrer Mummenschanz erfunden
eines karikierten Mischaktes mit einem zweiten Wesen gleichen
Geschlechts. Zwischen Mann und Mann. Weib und Weib.
Es ist im Grunde nur zu selbstverständlich, daß es bis dahin
kommt. Wehe, wenn sie losgelassen, -- eine Zauberin von
solcher Kraft, wie die Wollust. Losgelassen vom goldenen
Anker eines Sinnes im Zeugungsleben. Du hast gut ver¬
dammen in dieser Linie. Das eine sei die tiefste moralische
Schande. Und das andere laufe gar gegen das Strafgesetzbuch
im modernen Staate an. Mit solchen Reden kommst du aber
in der Philosophie nicht einen Schritt weiter. Du sollst be¬
greifen. Aus solchem Begreifen rinnt unendliches Mitleid.
Aber selbst dieses Mitleid giebt noch nicht die rechte Stellung.
Du sollst die Tragödie begreifen in ihrer ganzen Wucht, die
selbst mit dem weichen Mitleid nicht mehr zu fassen ist. Den
Prometheus sollst du sehen, den armen, nackten, blutenden
Prometheus Mensch, der hier angeschmiedet liegt auf dem
messerscharfen Felsen eines Widerspruchs. Nicht der Mensch hat

Samenzellen des Mannes, von der wir geredet haben. Hier
ſtürzen die Hekatomben hinab, die alle ohne jeden vagſten
Streifen von Hoffnungsrot dem ſicheren Verderben geweiht ſind.
Milliarden und Milliarden Akte, deren Sinn die Wolluſt iſt
und überhaupt nicht mehr die Zeugung. An dieſem neuen Sinn
aber ſterbend Milchſtraßen um Milchſtraßen ſehnenden Lebens,
— in jedem verſchmachtenden Samentierchen eine Welt.

Und ein dumpfes Ahnen durchbebt die Menſchheit, daß
wirklich in dieſem neuen Sinn ein Unſinn ſei. Alle Schranken
verſchieben ſich. Nachdem die Wolluſt ſich im Akte ſelbſt von
der Miſchliebe losgeſagt und der Diſtanceliebe als einer gleich¬
berechtigten verſchworen hat, erhebt ſich dieſe Diſtanceliebe über
ſie zur Despotin in den wunderlichſten Akten eigenſter Erfindung,
die nicht einmal mehr das äußere Bild wahren. Auf einſam
verſchlagener Lebensplanke entdecken arme Seelen, daß die
Wolluſt ſich ſogar finden läßt ohne ein zweites Weſen. Ganz
allein. Oder es wird ein wahrer Mummenſchanz erfunden
eines karikierten Miſchaktes mit einem zweiten Weſen gleichen
Geſchlechts. Zwiſchen Mann und Mann. Weib und Weib.
Es iſt im Grunde nur zu ſelbſtverſtändlich, daß es bis dahin
kommt. Wehe, wenn ſie losgelaſſen, — eine Zauberin von
ſolcher Kraft, wie die Wolluſt. Losgelaſſen vom goldenen
Anker eines Sinnes im Zeugungsleben. Du haſt gut ver¬
dammen in dieſer Linie. Das eine ſei die tiefſte moraliſche
Schande. Und das andere laufe gar gegen das Strafgeſetzbuch
im modernen Staate an. Mit ſolchen Reden kommſt du aber
in der Philoſophie nicht einen Schritt weiter. Du ſollſt be¬
greifen. Aus ſolchem Begreifen rinnt unendliches Mitleid.
Aber ſelbſt dieſes Mitleid giebt noch nicht die rechte Stellung.
Du ſollſt die Tragödie begreifen in ihrer ganzen Wucht, die
ſelbſt mit dem weichen Mitleid nicht mehr zu faſſen iſt. Den
Prometheus ſollſt du ſehen, den armen, nackten, blutenden
Prometheus Menſch, der hier angeſchmiedet liegt auf dem
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[180/0196] Samenzellen des Mannes, von der wir geredet haben. Hier ſtürzen die Hekatomben hinab, die alle ohne jeden vagſten Streifen von Hoffnungsrot dem ſicheren Verderben geweiht ſind. Milliarden und Milliarden Akte, deren Sinn die Wolluſt iſt und überhaupt nicht mehr die Zeugung. An dieſem neuen Sinn aber ſterbend Milchſtraßen um Milchſtraßen ſehnenden Lebens, — in jedem verſchmachtenden Samentierchen eine Welt. Und ein dumpfes Ahnen durchbebt die Menſchheit, daß wirklich in dieſem neuen Sinn ein Unſinn ſei. Alle Schranken verſchieben ſich. Nachdem die Wolluſt ſich im Akte ſelbſt von der Miſchliebe losgeſagt und der Diſtanceliebe als einer gleich¬ berechtigten verſchworen hat, erhebt ſich dieſe Diſtanceliebe über ſie zur Despotin in den wunderlichſten Akten eigenſter Erfindung, die nicht einmal mehr das äußere Bild wahren. Auf einſam verſchlagener Lebensplanke entdecken arme Seelen, daß die Wolluſt ſich ſogar finden läßt ohne ein zweites Weſen. Ganz allein. Oder es wird ein wahrer Mummenſchanz erfunden eines karikierten Miſchaktes mit einem zweiten Weſen gleichen Geſchlechts. Zwiſchen Mann und Mann. Weib und Weib. Es iſt im Grunde nur zu ſelbſtverſtändlich, daß es bis dahin kommt. Wehe, wenn ſie losgelaſſen, — eine Zauberin von ſolcher Kraft, wie die Wolluſt. Losgelaſſen vom goldenen Anker eines Sinnes im Zeugungsleben. Du haſt gut ver¬ dammen in dieſer Linie. Das eine ſei die tiefſte moraliſche Schande. Und das andere laufe gar gegen das Strafgeſetzbuch im modernen Staate an. Mit ſolchen Reden kommſt du aber in der Philoſophie nicht einen Schritt weiter. Du ſollſt be¬ greifen. Aus ſolchem Begreifen rinnt unendliches Mitleid. Aber ſelbſt dieſes Mitleid giebt noch nicht die rechte Stellung. Du ſollſt die Tragödie begreifen in ihrer ganzen Wucht, die ſelbſt mit dem weichen Mitleid nicht mehr zu faſſen iſt. Den Prometheus ſollſt du ſehen, den armen, nackten, blutenden Prometheus Menſch, der hier angeſchmiedet liegt auf dem meſſerſcharfen Felſen eines Widerſpruchs. Nicht der Menſch hat

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/196>, abgerufen am 04.05.2024.