schwimmen am Mutterleibe lang in den Atmungsapparat der Mutter, die Mutter schluckt Wasser, das von nachbarlich hilf¬ reicher Seite mit Samen geschwängert ist, und die Befruchtung vollzieht sich regelrecht bei dem einen Austerindividuum von einem zweiten her. Morgen aber wird unsere gleiche Mutter¬ auster auf einmal zum Herrn Vater werden und bloß Samen produzieren. Drüben beim Nachbar aber ist jetzt umgekehrt gerade der "Muttertag", dort giebt's heute statt Samen Eier und der Samen von dieser Seite gilt jetzt drüben als willkom¬ mener Atmungsschluck, der da nun wieder die Eier befruchtet.
Unglaublich schier ist bei solcher Doppelarbeit in der Liebe die Masse der Eier, die jede Einzelauster hervorbringen kann: eine einzige ältere, liebeserfahrene Auster kann mehr als eine Million Eier im Jahre produzieren. Wirklich zur vollen Ent¬ wickelung kommt davon natürlich nur ein winziger Prozentsatz.
Immerhin ist aber gar kein Zweifel, daß sich durch ratio¬ nelle Austernkultur, die sich vor allem eine sorgsame Pflege der ausschwärmenden jungen Brut zur Aufgabe stellt, gerade die Auster an all unseren Seeküsten so vermehren ließe, daß Austern zur billigsten Volksnahrung bis tief ins Binnenland hinein werden könnten. Man sagt: ein voller Bauch studiert nicht gern. Sozial gesprochen ist das ein arger Unsinn. Ein satter, vernünftig genährter Bauch fängt überhaupt erst an zu studieren. Ob es nicht gerade für die Bildung der Menschheit doch von größerem Nutzen wäre, wenn man sich in ihrem Interesse etwas mehr um die Auster als um die unregel¬ mäßigen griechischen Verba und die irrealen Bedingungssätze bekümmerte .....?
ſchwimmen am Mutterleibe lang in den Atmungsapparat der Mutter, die Mutter ſchluckt Waſſer, das von nachbarlich hilf¬ reicher Seite mit Samen geſchwängert iſt, und die Befruchtung vollzieht ſich regelrecht bei dem einen Auſterindividuum von einem zweiten her. Morgen aber wird unſere gleiche Mutter¬ auſter auf einmal zum Herrn Vater werden und bloß Samen produzieren. Drüben beim Nachbar aber iſt jetzt umgekehrt gerade der „Muttertag“, dort giebt's heute ſtatt Samen Eier und der Samen von dieſer Seite gilt jetzt drüben als willkom¬ mener Atmungsſchluck, der da nun wieder die Eier befruchtet.
Unglaublich ſchier iſt bei ſolcher Doppelarbeit in der Liebe die Maſſe der Eier, die jede Einzelauſter hervorbringen kann: eine einzige ältere, liebeserfahrene Auſter kann mehr als eine Million Eier im Jahre produzieren. Wirklich zur vollen Ent¬ wickelung kommt davon natürlich nur ein winziger Prozentſatz.
Immerhin iſt aber gar kein Zweifel, daß ſich durch ratio¬ nelle Auſternkultur, die ſich vor allem eine ſorgſame Pflege der ausſchwärmenden jungen Brut zur Aufgabe ſtellt, gerade die Auſter an all unſeren Seeküſten ſo vermehren ließe, daß Auſtern zur billigſten Volksnahrung bis tief ins Binnenland hinein werden könnten. Man ſagt: ein voller Bauch ſtudiert nicht gern. Sozial geſprochen iſt das ein arger Unſinn. Ein ſatter, vernünftig genährter Bauch fängt überhaupt erſt an zu ſtudieren. Ob es nicht gerade für die Bildung der Menſchheit doch von größerem Nutzen wäre, wenn man ſich in ihrem Intereſſe etwas mehr um die Auſter als um die unregel¬ mäßigen griechiſchen Verba und die irrealen Bedingungsſätze bekümmerte .....?
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0300"n="284"/>ſchwimmen am Mutterleibe lang in den Atmungsapparat der<lb/>
Mutter, die Mutter ſchluckt Waſſer, das von nachbarlich hilf¬<lb/>
reicher Seite mit Samen geſchwängert iſt, und die Befruchtung<lb/>
vollzieht ſich regelrecht bei dem einen Auſterindividuum von<lb/>
einem zweiten her. Morgen aber wird unſere gleiche Mutter¬<lb/>
auſter auf einmal zum Herrn Vater werden und bloß Samen<lb/>
produzieren. Drüben beim Nachbar aber iſt jetzt umgekehrt<lb/>
gerade der „Muttertag“, dort giebt's heute ſtatt Samen Eier<lb/>
und der Samen von dieſer Seite gilt jetzt drüben als willkom¬<lb/>
mener Atmungsſchluck, der da nun wieder die Eier befruchtet.</p><lb/><p>Unglaublich ſchier iſt bei ſolcher Doppelarbeit in der<lb/>
Liebe die Maſſe der Eier, die jede Einzelauſter hervorbringen<lb/>
kann: eine einzige ältere, liebeserfahrene Auſter kann mehr als<lb/>
eine Million Eier im Jahre produzieren. Wirklich zur vollen Ent¬<lb/>
wickelung kommt davon natürlich nur ein winziger Prozentſatz.</p><lb/><p>Immerhin iſt aber gar kein Zweifel, daß ſich durch ratio¬<lb/>
nelle Auſternkultur, die ſich vor allem eine ſorgſame Pflege<lb/>
der ausſchwärmenden jungen Brut zur Aufgabe ſtellt, gerade<lb/>
die Auſter an all unſeren Seeküſten ſo vermehren ließe, daß<lb/>
Auſtern zur billigſten Volksnahrung bis tief ins Binnenland<lb/>
hinein werden könnten. Man ſagt: ein voller Bauch ſtudiert<lb/>
nicht gern. Sozial geſprochen iſt das ein arger Unſinn. Ein<lb/>ſatter, vernünftig genährter Bauch fängt überhaupt erſt an zu<lb/>ſtudieren. Ob es nicht gerade für die Bildung der Menſchheit<lb/>
doch von größerem Nutzen wäre, wenn man ſich in ihrem<lb/>
Intereſſe etwas mehr um die Auſter als um die unregel¬<lb/>
mäßigen griechiſchen Verba und die irrealen Bedingungsſätze<lb/>
bekümmerte .....?</p><lb/></div></body></text></TEI>
[284/0300]
ſchwimmen am Mutterleibe lang in den Atmungsapparat der
Mutter, die Mutter ſchluckt Waſſer, das von nachbarlich hilf¬
reicher Seite mit Samen geſchwängert iſt, und die Befruchtung
vollzieht ſich regelrecht bei dem einen Auſterindividuum von
einem zweiten her. Morgen aber wird unſere gleiche Mutter¬
auſter auf einmal zum Herrn Vater werden und bloß Samen
produzieren. Drüben beim Nachbar aber iſt jetzt umgekehrt
gerade der „Muttertag“, dort giebt's heute ſtatt Samen Eier
und der Samen von dieſer Seite gilt jetzt drüben als willkom¬
mener Atmungsſchluck, der da nun wieder die Eier befruchtet.
Unglaublich ſchier iſt bei ſolcher Doppelarbeit in der
Liebe die Maſſe der Eier, die jede Einzelauſter hervorbringen
kann: eine einzige ältere, liebeserfahrene Auſter kann mehr als
eine Million Eier im Jahre produzieren. Wirklich zur vollen Ent¬
wickelung kommt davon natürlich nur ein winziger Prozentſatz.
Immerhin iſt aber gar kein Zweifel, daß ſich durch ratio¬
nelle Auſternkultur, die ſich vor allem eine ſorgſame Pflege
der ausſchwärmenden jungen Brut zur Aufgabe ſtellt, gerade
die Auſter an all unſeren Seeküſten ſo vermehren ließe, daß
Auſtern zur billigſten Volksnahrung bis tief ins Binnenland
hinein werden könnten. Man ſagt: ein voller Bauch ſtudiert
nicht gern. Sozial geſprochen iſt das ein arger Unſinn. Ein
ſatter, vernünftig genährter Bauch fängt überhaupt erſt an zu
ſtudieren. Ob es nicht gerade für die Bildung der Menſchheit
doch von größerem Nutzen wäre, wenn man ſich in ihrem
Intereſſe etwas mehr um die Auſter als um die unregel¬
mäßigen griechiſchen Verba und die irrealen Bedingungsſätze
bekümmerte .....?
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/300>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.