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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Auf diesem schlechten Unterbau ist oben allerdings wunder¬
bar tief und groß weiterspekuliert worden, und der Glanz des
Denkens hat das schlechte Fundament immer wieder vergessen
lassen. Aber inzwischen ist die Forschung für sich unablässig
still bei der Arbeit gewesen, um da unten neu zu mauern,
und schließlich hat sie neu gemauert. Nun ist aber zu ver¬
langen, daß das wenigstens respektiert werde.

Eine Menge Menschen meint freilich, alles Denken, alle
Philosophie, aller große freie Flug sei im Moment selber dahin,
wo dem Naturforscher dieses Recht eingeräumt wird. Das ist
die höchste Thorheit. Was er liefert, ist an sich ja wieder
absolut freies Material. Nur aufnehmen sollst du dieses
Material. Was du damit machst, ist nach wie vor deine Sache.
Baue dir die kühnsten Gedanken nach wie vor über das Indi¬
viduum, ich wünsche dir alles Glück. Aber baue sie auf und
mit dem neuen Material. Nimm die Ammenzeugung des
Bandwurms von vorne herein in deine Rechnung -- um bei
dem Beispiel zu bleiben, obwohl es nur eins unter zahllosen
ist -- und dann wandere im übrigen auf Resultate los, wie du
willst. Dann bist du Herr der Situation. Die Forschung ist
dann der sichere Planet, der dich schützt und trägt. Im anderen
Falle bleibt sie der dräuende Magnetberg, der dir immer und
immer wieder die Nägel aus deinen philosophischen Schiffen zieht.

Den meisten geht es heute noch so. In ihr Denken
stürzt die Naturforschung wie ein Klotz, den sie nicht zu regen
wissen. Alles schäumt, kippt und ersäuft. Und doch ist sie
das wirklich Ungeheure im guten Sinne, das unsere Zeit dir
als eigenstes hinzugiebt, auf ihr wird dein Denken wie ver¬
jüngt aufblühen. Wohlverstanden: dein Denken in jedem Sinne.
Mit Resultaten, so kühn, wie du dir nur träumen lassen willst.
Auch im Problem des Individuums. Aus der ungeheuerlichen
Komplizierung, die der Naturforscher auch ihm auf einmal
giebt, mag seine ideelle Bewältigung erst recht wie ein junger
Phönix auferstehen ....

Auf dieſem ſchlechten Unterbau iſt oben allerdings wunder¬
bar tief und groß weiterſpekuliert worden, und der Glanz des
Denkens hat das ſchlechte Fundament immer wieder vergeſſen
laſſen. Aber inzwiſchen iſt die Forſchung für ſich unabläſſig
ſtill bei der Arbeit geweſen, um da unten neu zu mauern,
und ſchließlich hat ſie neu gemauert. Nun iſt aber zu ver¬
langen, daß das wenigſtens reſpektiert werde.

Eine Menge Menſchen meint freilich, alles Denken, alle
Philoſophie, aller große freie Flug ſei im Moment ſelber dahin,
wo dem Naturforſcher dieſes Recht eingeräumt wird. Das iſt
die höchſte Thorheit. Was er liefert, iſt an ſich ja wieder
abſolut freies Material. Nur aufnehmen ſollſt du dieſes
Material. Was du damit machſt, iſt nach wie vor deine Sache.
Baue dir die kühnſten Gedanken nach wie vor über das Indi¬
viduum, ich wünſche dir alles Glück. Aber baue ſie auf und
mit dem neuen Material. Nimm die Ammenzeugung des
Bandwurms von vorne herein in deine Rechnung — um bei
dem Beiſpiel zu bleiben, obwohl es nur eins unter zahlloſen
iſt — und dann wandere im übrigen auf Reſultate los, wie du
willſt. Dann biſt du Herr der Situation. Die Forſchung iſt
dann der ſichere Planet, der dich ſchützt und trägt. Im anderen
Falle bleibt ſie der dräuende Magnetberg, der dir immer und
immer wieder die Nägel aus deinen philoſophiſchen Schiffen zieht.

Den meiſten geht es heute noch ſo. In ihr Denken
ſtürzt die Naturforſchung wie ein Klotz, den ſie nicht zu regen
wiſſen. Alles ſchäumt, kippt und erſäuft. Und doch iſt ſie
das wirklich Ungeheure im guten Sinne, das unſere Zeit dir
als eigenſtes hinzugiebt, auf ihr wird dein Denken wie ver¬
jüngt aufblühen. Wohlverſtanden: dein Denken in jedem Sinne.
Mit Reſultaten, ſo kühn, wie du dir nur träumen laſſen willſt.
Auch im Problem des Individuums. Aus der ungeheuerlichen
Komplizierung, die der Naturforſcher auch ihm auf einmal
giebt, mag ſeine ideelle Bewältigung erſt recht wie ein junger
Phönix auferſtehen ....

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[274/0290] Auf dieſem ſchlechten Unterbau iſt oben allerdings wunder¬ bar tief und groß weiterſpekuliert worden, und der Glanz des Denkens hat das ſchlechte Fundament immer wieder vergeſſen laſſen. Aber inzwiſchen iſt die Forſchung für ſich unabläſſig ſtill bei der Arbeit geweſen, um da unten neu zu mauern, und ſchließlich hat ſie neu gemauert. Nun iſt aber zu ver¬ langen, daß das wenigſtens reſpektiert werde. Eine Menge Menſchen meint freilich, alles Denken, alle Philoſophie, aller große freie Flug ſei im Moment ſelber dahin, wo dem Naturforſcher dieſes Recht eingeräumt wird. Das iſt die höchſte Thorheit. Was er liefert, iſt an ſich ja wieder abſolut freies Material. Nur aufnehmen ſollſt du dieſes Material. Was du damit machſt, iſt nach wie vor deine Sache. Baue dir die kühnſten Gedanken nach wie vor über das Indi¬ viduum, ich wünſche dir alles Glück. Aber baue ſie auf und mit dem neuen Material. Nimm die Ammenzeugung des Bandwurms von vorne herein in deine Rechnung — um bei dem Beiſpiel zu bleiben, obwohl es nur eins unter zahlloſen iſt — und dann wandere im übrigen auf Reſultate los, wie du willſt. Dann biſt du Herr der Situation. Die Forſchung iſt dann der ſichere Planet, der dich ſchützt und trägt. Im anderen Falle bleibt ſie der dräuende Magnetberg, der dir immer und immer wieder die Nägel aus deinen philoſophiſchen Schiffen zieht. Den meiſten geht es heute noch ſo. In ihr Denken ſtürzt die Naturforſchung wie ein Klotz, den ſie nicht zu regen wiſſen. Alles ſchäumt, kippt und erſäuft. Und doch iſt ſie das wirklich Ungeheure im guten Sinne, das unſere Zeit dir als eigenſtes hinzugiebt, auf ihr wird dein Denken wie ver¬ jüngt aufblühen. Wohlverſtanden: dein Denken in jedem Sinne. Mit Reſultaten, ſo kühn, wie du dir nur träumen laſſen willſt. Auch im Problem des Individuums. Aus der ungeheuerlichen Komplizierung, die der Naturforſcher auch ihm auf einmal giebt, mag ſeine ideelle Bewältigung erſt recht wie ein junger Phönix auferſtehen ....

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/290>, abgerufen am 28.11.2024.