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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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viduums als unendlich viel verwickelter ansehen lernen müssen,
als es unsere gewöhnlichen Phantasiezüge fassen?

Wir wirtschaften da offenbar philosophisch mit einem Be¬
griff, der naturgeschichtlich sich in einen ganzen Rattenkönig von
Einzelproblemen verwirrt. Du hast gut predigen: das Indi¬
viduum soll unsterblich sein. Aber wenn dir nun allenthalben,
je tiefer du ins Tier- und Pflanzenreich dringst, dieses Indi¬
viduum selber unter den Händen fließt? Nicht zerfließt, wohl
verstanden, im Tode, sondern zerfließt im Leben.

Eltern, in Kinder sich zerteilend, Kinder, in Eltern hinein¬
wachsend, Eltern und Kinder sich vermengend bis in den Besitz
eines Organs, wie des Magens, hinein ..... überall Fluß,
überall Übergang von Leben in Leben -- und aus diesem
ganzen Gewoge kommt nun eines Tages der Mensch selber
herauf, Tier von ganz bestimmter Sorte noch in jeder Faser,
ein Zellenkomplex, geschlechtlich zeugend mit Samenzellen und
Eizellen, ein Wirbeltier, ein Säugetier, -- es geht doch nicht
an, daß wir für ihn Separaterfindungen machen, -- was wir
von ihm klügeln, das müssen wir auch da unten überall ein¬
passen können.

Du zögerst, -- du hast dir das alles bisher nicht mit
solchen Thatsachen illustriert. Nun, verstehe mich recht. Ich
will dir nichts zerstören, was dir lieb ist, was dir für dein
Leben gleichsam nötig scheint. Ich möchte dir eben wirklich
bloß Thatsachen geben, die Schlüsse magst du dir dann nach
Bedarf selber ziehen. Nur das eine sollte dir klar werden.
Du mußt das, was der Naturforscher dir liefert, hineinziehen
in deine Spekulation. Du kannst da nicht vorübergehen wie
der Pharisäer an dem wunden Mann, der in der Wüste lag.
Du mußt dir reinen Wein darüber einschenken, daß der ganze
konventionelle Unterbau deiner Ideen über Welt, Individuum,
Ewigkeit, Unsterblichkeit, Leben, Tod, Ich, Du, Mutter, Kind
und so fort dir überkommen ist aus Zeiten, die von den Resul¬
taten unserer Naturforschung noch keine blasseste Ahnung hatten.

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viduums als unendlich viel verwickelter anſehen lernen müſſen,
als es unſere gewöhnlichen Phantaſiezüge faſſen?

Wir wirtſchaften da offenbar philoſophiſch mit einem Be¬
griff, der naturgeſchichtlich ſich in einen ganzen Rattenkönig von
Einzelproblemen verwirrt. Du haſt gut predigen: das Indi¬
viduum ſoll unſterblich ſein. Aber wenn dir nun allenthalben,
je tiefer du ins Tier- und Pflanzenreich dringſt, dieſes Indi¬
viduum ſelber unter den Händen fließt? Nicht zerfließt, wohl
verſtanden, im Tode, ſondern zerfließt im Leben.

Eltern, in Kinder ſich zerteilend, Kinder, in Eltern hinein¬
wachſend, Eltern und Kinder ſich vermengend bis in den Beſitz
eines Organs, wie des Magens, hinein ..... überall Fluß,
überall Übergang von Leben in Leben — und aus dieſem
ganzen Gewoge kommt nun eines Tages der Menſch ſelber
herauf, Tier von ganz beſtimmter Sorte noch in jeder Faſer,
ein Zellenkomplex, geſchlechtlich zeugend mit Samenzellen und
Eizellen, ein Wirbeltier, ein Säugetier, — es geht doch nicht
an, daß wir für ihn Separaterfindungen machen, — was wir
von ihm klügeln, das müſſen wir auch da unten überall ein¬
paſſen können.

Du zögerſt, — du haſt dir das alles bisher nicht mit
ſolchen Thatſachen illuſtriert. Nun, verſtehe mich recht. Ich
will dir nichts zerſtören, was dir lieb iſt, was dir für dein
Leben gleichſam nötig ſcheint. Ich möchte dir eben wirklich
bloß Thatſachen geben, die Schlüſſe magſt du dir dann nach
Bedarf ſelber ziehen. Nur das eine ſollte dir klar werden.
Du mußt das, was der Naturforſcher dir liefert, hineinziehen
in deine Spekulation. Du kannſt da nicht vorübergehen wie
der Phariſäer an dem wunden Mann, der in der Wüſte lag.
Du mußt dir reinen Wein darüber einſchenken, daß der ganze
konventionelle Unterbau deiner Ideen über Welt, Individuum,
Ewigkeit, Unſterblichkeit, Leben, Tod, Ich, Du, Mutter, Kind
und ſo fort dir überkommen iſt aus Zeiten, die von den Reſul¬
taten unſerer Naturforſchung noch keine blaſſeſte Ahnung hatten.

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[273/0289] viduums als unendlich viel verwickelter anſehen lernen müſſen, als es unſere gewöhnlichen Phantaſiezüge faſſen? Wir wirtſchaften da offenbar philoſophiſch mit einem Be¬ griff, der naturgeſchichtlich ſich in einen ganzen Rattenkönig von Einzelproblemen verwirrt. Du haſt gut predigen: das Indi¬ viduum ſoll unſterblich ſein. Aber wenn dir nun allenthalben, je tiefer du ins Tier- und Pflanzenreich dringſt, dieſes Indi¬ viduum ſelber unter den Händen fließt? Nicht zerfließt, wohl verſtanden, im Tode, ſondern zerfließt im Leben. Eltern, in Kinder ſich zerteilend, Kinder, in Eltern hinein¬ wachſend, Eltern und Kinder ſich vermengend bis in den Beſitz eines Organs, wie des Magens, hinein ..... überall Fluß, überall Übergang von Leben in Leben — und aus dieſem ganzen Gewoge kommt nun eines Tages der Menſch ſelber herauf, Tier von ganz beſtimmter Sorte noch in jeder Faſer, ein Zellenkomplex, geſchlechtlich zeugend mit Samenzellen und Eizellen, ein Wirbeltier, ein Säugetier, — es geht doch nicht an, daß wir für ihn Separaterfindungen machen, — was wir von ihm klügeln, das müſſen wir auch da unten überall ein¬ paſſen können. Du zögerſt, — du haſt dir das alles bisher nicht mit ſolchen Thatſachen illuſtriert. Nun, verſtehe mich recht. Ich will dir nichts zerſtören, was dir lieb iſt, was dir für dein Leben gleichſam nötig ſcheint. Ich möchte dir eben wirklich bloß Thatſachen geben, die Schlüſſe magſt du dir dann nach Bedarf ſelber ziehen. Nur das eine ſollte dir klar werden. Du mußt das, was der Naturforſcher dir liefert, hineinziehen in deine Spekulation. Du kannſt da nicht vorübergehen wie der Phariſäer an dem wunden Mann, der in der Wüſte lag. Du mußt dir reinen Wein darüber einſchenken, daß der ganze konventionelle Unterbau deiner Ideen über Welt, Individuum, Ewigkeit, Unſterblichkeit, Leben, Tod, Ich, Du, Mutter, Kind und ſo fort dir überkommen iſt aus Zeiten, die von den Reſul¬ taten unſerer Naturforſchung noch keine blaſſeſte Ahnung hatten. 18*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/289>, abgerufen am 12.05.2024.