Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Begriffs Individuum. Diese ganze Seeigelgeschichte, bis zur
extremsten Ecke entwickelt, wo das Junge die Mutter oder
Amme oder Über-Larve, oder wie du es nennen willst, nicht
mehr bloß als fremdes Objekt frißt, sondern ihr ein Organ
geradenweges fortnimmt und in sich selber hineinwachsen läßt:
diese gruselige Historia, sollte sie nicht den Philosophen zum
tiefsten Nachdenken über das Individuum überhaupt anregen?

Ja siehst du! Und hier lenkt unsere Betrachtung über
so viel Bandwürmer, Leberegel, Aalwürmchen und schließlich
Seeigel von selbst zu dem zurück, was ich dir über Unsterblich¬
keit gesagt habe.

Du hast nun Fälle genug gesehen, wo das eine Indi¬
viduum thatsächlich rund aufgebraucht wurde zur Existenz des
nächsten, -- bis zu unserem Seeigel herab, wo das eine seinen
Magen lassen mußte, damit das andere lebensfähig wurde.
Nun sagst du wohl: was geht das alles den Menschen an, für
den alle die Unsterblichkeitsgedanken doch eigentlich gebraut
sind. Aber vergiß nicht, daß der Mensch ein Tier ist. Daß
er als Wirbeltier letzten Endes auch aus solchen Würmern
heraufgekommen ist. Und daß der Prozeß jener Ammenzeugung
wahrscheinlich doch als Station auch in seiner Geschichte ge¬
legen hat, wenn er auch heute als etwas Überwundenes von
ihm schon abgestoßen ist.

Wann, so frage ich dich, soll in dieser Entwickelung das
Individuum so wichtig geworden sein, daß es eine Unsterblich¬
keit verdiente über die einfache Umwandlung in seine Kinder
hinaus? Oder wird es dir vor jenen handgreiflich groben
Beispielen nicht klar, daß wir das ganze Problem des Indi¬

Begriffs Individuum. Dieſe ganze Seeigelgeſchichte, bis zur
extremſten Ecke entwickelt, wo das Junge die Mutter oder
Amme oder Über-Larve, oder wie du es nennen willſt, nicht
mehr bloß als fremdes Objekt frißt, ſondern ihr ein Organ
geradenweges fortnimmt und in ſich ſelber hineinwachſen läßt:
dieſe gruſelige Hiſtoria, ſollte ſie nicht den Philoſophen zum
tiefſten Nachdenken über das Individuum überhaupt anregen?

Ja ſiehſt du! Und hier lenkt unſere Betrachtung über
ſo viel Bandwürmer, Leberegel, Aalwürmchen und ſchließlich
Seeigel von ſelbſt zu dem zurück, was ich dir über Unſterblich¬
keit geſagt habe.

Du haſt nun Fälle genug geſehen, wo das eine Indi¬
viduum thatſächlich rund aufgebraucht wurde zur Exiſtenz des
nächſten, — bis zu unſerem Seeigel herab, wo das eine ſeinen
Magen laſſen mußte, damit das andere lebensfähig wurde.
Nun ſagſt du wohl: was geht das alles den Menſchen an, für
den alle die Unſterblichkeitsgedanken doch eigentlich gebraut
ſind. Aber vergiß nicht, daß der Menſch ein Tier iſt. Daß
er als Wirbeltier letzten Endes auch aus ſolchen Würmern
heraufgekommen iſt. Und daß der Prozeß jener Ammenzeugung
wahrſcheinlich doch als Station auch in ſeiner Geſchichte ge¬
legen hat, wenn er auch heute als etwas Überwundenes von
ihm ſchon abgeſtoßen iſt.

Wann, ſo frage ich dich, ſoll in dieſer Entwickelung das
Individuum ſo wichtig geworden ſein, daß es eine Unſterblich¬
keit verdiente über die einfache Umwandlung in ſeine Kinder
hinaus? Oder wird es dir vor jenen handgreiflich groben
Beiſpielen nicht klar, daß wir das ganze Problem des Indi¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0288" n="272"/>
Begriffs Individuum. Die&#x017F;e ganze Seeigelge&#x017F;chichte, bis zur<lb/>
extrem&#x017F;ten Ecke entwickelt, wo das Junge die Mutter oder<lb/>
Amme oder Über-Larve, oder wie du es nennen will&#x017F;t, nicht<lb/>
mehr bloß als fremdes Objekt frißt, &#x017F;ondern ihr ein Organ<lb/>
geradenweges fortnimmt und in &#x017F;ich &#x017F;elber hineinwach&#x017F;en läßt:<lb/>
die&#x017F;e gru&#x017F;elige Hi&#x017F;toria, &#x017F;ollte &#x017F;ie nicht den Philo&#x017F;ophen zum<lb/>
tief&#x017F;ten Nachdenken über das Individuum überhaupt anregen?</p><lb/>
        <p>Ja &#x017F;ieh&#x017F;t du! Und hier lenkt un&#x017F;ere Betrachtung über<lb/>
&#x017F;o viel Bandwürmer, Leberegel, Aalwürmchen und &#x017F;chließlich<lb/>
Seeigel von &#x017F;elb&#x017F;t zu dem zurück, was ich dir über Un&#x017F;terblich¬<lb/>
keit ge&#x017F;agt habe.</p><lb/>
        <p>Du ha&#x017F;t nun Fälle genug ge&#x017F;ehen, wo das eine Indi¬<lb/>
viduum that&#x017F;ächlich rund aufgebraucht wurde zur Exi&#x017F;tenz des<lb/>
näch&#x017F;ten, &#x2014; bis zu un&#x017F;erem Seeigel herab, wo das eine &#x017F;einen<lb/>
Magen la&#x017F;&#x017F;en mußte, damit das andere lebensfähig wurde.<lb/>
Nun &#x017F;ag&#x017F;t du wohl: was geht das alles den Men&#x017F;chen an, für<lb/>
den alle die Un&#x017F;terblichkeitsgedanken doch eigentlich gebraut<lb/>
&#x017F;ind. Aber vergiß nicht, daß der Men&#x017F;ch ein Tier i&#x017F;t. Daß<lb/>
er als Wirbeltier letzten Endes auch aus &#x017F;olchen Würmern<lb/>
heraufgekommen i&#x017F;t. Und daß der Prozeß jener Ammenzeugung<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich doch als Station auch in &#x017F;einer Ge&#x017F;chichte ge¬<lb/>
legen hat, wenn er auch heute als etwas Überwundenes von<lb/>
ihm &#x017F;chon abge&#x017F;toßen i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Wann, &#x017F;o frage ich dich, &#x017F;oll in die&#x017F;er Entwickelung das<lb/>
Individuum &#x017F;o wichtig geworden &#x017F;ein, daß es eine Un&#x017F;terblich¬<lb/>
keit verdiente über die einfache Umwandlung in &#x017F;eine Kinder<lb/>
hinaus? Oder wird es dir vor jenen handgreiflich groben<lb/>
Bei&#x017F;pielen nicht klar, daß wir das ganze Problem des Indi¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0288] Begriffs Individuum. Dieſe ganze Seeigelgeſchichte, bis zur extremſten Ecke entwickelt, wo das Junge die Mutter oder Amme oder Über-Larve, oder wie du es nennen willſt, nicht mehr bloß als fremdes Objekt frißt, ſondern ihr ein Organ geradenweges fortnimmt und in ſich ſelber hineinwachſen läßt: dieſe gruſelige Hiſtoria, ſollte ſie nicht den Philoſophen zum tiefſten Nachdenken über das Individuum überhaupt anregen? Ja ſiehſt du! Und hier lenkt unſere Betrachtung über ſo viel Bandwürmer, Leberegel, Aalwürmchen und ſchließlich Seeigel von ſelbſt zu dem zurück, was ich dir über Unſterblich¬ keit geſagt habe. Du haſt nun Fälle genug geſehen, wo das eine Indi¬ viduum thatſächlich rund aufgebraucht wurde zur Exiſtenz des nächſten, — bis zu unſerem Seeigel herab, wo das eine ſeinen Magen laſſen mußte, damit das andere lebensfähig wurde. Nun ſagſt du wohl: was geht das alles den Menſchen an, für den alle die Unſterblichkeitsgedanken doch eigentlich gebraut ſind. Aber vergiß nicht, daß der Menſch ein Tier iſt. Daß er als Wirbeltier letzten Endes auch aus ſolchen Würmern heraufgekommen iſt. Und daß der Prozeß jener Ammenzeugung wahrſcheinlich doch als Station auch in ſeiner Geſchichte ge¬ legen hat, wenn er auch heute als etwas Überwundenes von ihm ſchon abgeſtoßen iſt. Wann, ſo frage ich dich, ſoll in dieſer Entwickelung das Individuum ſo wichtig geworden ſein, daß es eine Unſterblich¬ keit verdiente über die einfache Umwandlung in ſeine Kinder hinaus? Oder wird es dir vor jenen handgreiflich groben Beiſpielen nicht klar, daß wir das ganze Problem des Indi¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/288
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/288>, abgerufen am 24.11.2024.