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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Tod wäre wie eine tiefe Schlafnacht, aus der man mit dem alten
Charakter, aber gleichsam in der Lebensbahn herabgeschraubt
und mit wieder hergestellter Anfangskraft erwachte. Freilich
risse eines doch ab: die alten Erinnerungen. Aber was sind
im Grunde unsere Erinnerungen? Schriftzeichen im Gehirn,
zum Teil und mit den Jahren recht undeutlich. Echte äußere
Schrift in Notizen und Tagebüchern ist schon jetzt uns selber
eventuell mehr wert, wenigstens auf lange Dauer. Sollte es
nicht einer findigen Zukunftsmenschheit gelingen, das Gedächtnis,
ich möchte sagen, photographisch nach außen zu projizieren, so
daß sein ganzer oder wesentlicher Inhalt auch äußerlich über¬
liefert werden könnte nach Fortfall des erlebenden Gehirns?
Und könnte so nicht das neugeborene, verjüngte Ich die alten
Erinnerungen wieder lernen? Es gäbe da noch unendlich
vielerlei zu phantasieren. Höchst interessant wäre das Zu¬
sammenfließen von Mann und Weib zu einem dritten neuen
Individuum im Lichte dieser Anschauungen, höchst interessant
und zugleich wahrhaft schwindelnd kompliziert. Aber es möchte,
glaube ich, gut geschehen, daß sich die hübsche Geschichte ganz
im Sinne des alten Märchens vom Jungbrunnen bis in eine
solche logische Folge hineinmalte, daß eine ganze, eventuell ins
Blaue weitergehende Kette blutsverwandter Generationen über
Jahrtausende weg wie ein und dasselbe Individuum erschiene,
bloß in seinem Riesenleben durchquert von gewissen Momenten
tiefen, verjüngenden, krafterneuernden Ich-Schlafes, so wie unser
Einzelleben durchquert ist von so und so viel Nächten gewöhn¬
lichen Schlafes, in denen auch das Bewußtsein zeitweise (und
offenbar ebenfalls zu wenigstens schlichten Krafterneuerungs¬
zwecken) unterbrochen erscheint. Am Ende wäre eine persönliche
Unsterblichkeit neben jener Kinderunsterblichkeit thatsächlich über¬
flüssig
.

Nur, so fügt der Träumende nach aller Phantasmagorie
ernsthaft hinzu, es ist eben nicht so. Das elterliche Individuum
geht bei den höheren Organismen nicht restlos in das kind¬

Tod wäre wie eine tiefe Schlafnacht, aus der man mit dem alten
Charakter, aber gleichſam in der Lebensbahn herabgeſchraubt
und mit wieder hergeſtellter Anfangskraft erwachte. Freilich
riſſe eines doch ab: die alten Erinnerungen. Aber was ſind
im Grunde unſere Erinnerungen? Schriftzeichen im Gehirn,
zum Teil und mit den Jahren recht undeutlich. Echte äußere
Schrift in Notizen und Tagebüchern iſt ſchon jetzt uns ſelber
eventuell mehr wert, wenigſtens auf lange Dauer. Sollte es
nicht einer findigen Zukunftsmenſchheit gelingen, das Gedächtnis,
ich möchte ſagen, photographiſch nach außen zu projizieren, ſo
daß ſein ganzer oder weſentlicher Inhalt auch äußerlich über¬
liefert werden könnte nach Fortfall des erlebenden Gehirns?
Und könnte ſo nicht das neugeborene, verjüngte Ich die alten
Erinnerungen wieder lernen? Es gäbe da noch unendlich
vielerlei zu phantaſieren. Höchſt intereſſant wäre das Zu¬
ſammenfließen von Mann und Weib zu einem dritten neuen
Individuum im Lichte dieſer Anſchauungen, höchſt intereſſant
und zugleich wahrhaft ſchwindelnd kompliziert. Aber es möchte,
glaube ich, gut geſchehen, daß ſich die hübſche Geſchichte ganz
im Sinne des alten Märchens vom Jungbrunnen bis in eine
ſolche logiſche Folge hineinmalte, daß eine ganze, eventuell ins
Blaue weitergehende Kette blutsverwandter Generationen über
Jahrtauſende weg wie ein und dasſelbe Individuum erſchiene,
bloß in ſeinem Rieſenleben durchquert von gewiſſen Momenten
tiefen, verjüngenden, krafterneuernden Ich-Schlafes, ſo wie unſer
Einzelleben durchquert iſt von ſo und ſo viel Nächten gewöhn¬
lichen Schlafes, in denen auch das Bewußtſein zeitweiſe (und
offenbar ebenfalls zu wenigſtens ſchlichten Krafterneuerungs¬
zwecken) unterbrochen erſcheint. Am Ende wäre eine perſönliche
Unſterblichkeit neben jener Kinderunſterblichkeit thatſächlich über¬
flüſſig
.

Nur, ſo fügt der Träumende nach aller Phantasmagorie
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[229/0245] Tod wäre wie eine tiefe Schlafnacht, aus der man mit dem alten Charakter, aber gleichſam in der Lebensbahn herabgeſchraubt und mit wieder hergeſtellter Anfangskraft erwachte. Freilich riſſe eines doch ab: die alten Erinnerungen. Aber was ſind im Grunde unſere Erinnerungen? Schriftzeichen im Gehirn, zum Teil und mit den Jahren recht undeutlich. Echte äußere Schrift in Notizen und Tagebüchern iſt ſchon jetzt uns ſelber eventuell mehr wert, wenigſtens auf lange Dauer. Sollte es nicht einer findigen Zukunftsmenſchheit gelingen, das Gedächtnis, ich möchte ſagen, photographiſch nach außen zu projizieren, ſo daß ſein ganzer oder weſentlicher Inhalt auch äußerlich über¬ liefert werden könnte nach Fortfall des erlebenden Gehirns? Und könnte ſo nicht das neugeborene, verjüngte Ich die alten Erinnerungen wieder lernen? Es gäbe da noch unendlich vielerlei zu phantaſieren. Höchſt intereſſant wäre das Zu¬ ſammenfließen von Mann und Weib zu einem dritten neuen Individuum im Lichte dieſer Anſchauungen, höchſt intereſſant und zugleich wahrhaft ſchwindelnd kompliziert. Aber es möchte, glaube ich, gut geſchehen, daß ſich die hübſche Geſchichte ganz im Sinne des alten Märchens vom Jungbrunnen bis in eine ſolche logiſche Folge hineinmalte, daß eine ganze, eventuell ins Blaue weitergehende Kette blutsverwandter Generationen über Jahrtauſende weg wie ein und dasſelbe Individuum erſchiene, bloß in ſeinem Rieſenleben durchquert von gewiſſen Momenten tiefen, verjüngenden, krafterneuernden Ich-Schlafes, ſo wie unſer Einzelleben durchquert iſt von ſo und ſo viel Nächten gewöhn¬ lichen Schlafes, in denen auch das Bewußtſein zeitweiſe (und offenbar ebenfalls zu wenigſtens ſchlichten Krafterneuerungs¬ zwecken) unterbrochen erſcheint. Am Ende wäre eine perſönliche Unſterblichkeit neben jener Kinderunſterblichkeit thatſächlich über¬ flüſſig. Nur, ſo fügt der Träumende nach aller Phantasmagorie ernſthaft hinzu, es iſt eben nicht ſo. Das elterliche Individuum geht bei den höheren Organismen nicht reſtlos in das kind¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/245>, abgerufen am 22.11.2024.