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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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wieder als ein Ich, ein Individuum erscheint, ja als der wahre
Typus eines solchen einheitlichen Ich.

Die Sache ist besonders seelisch so überaus merkwürdig.
Denke dir: fünfzig Zellen, sagen wir mal, gehen einen solchen
sozialen Verband ein. Das glückt auch ohne direkte Verschmel¬
zung vor allem dadurch, daß die Zellwände durchlässig sind.
Zum Beispiel der Nahrungssaft kann frei zirkulieren durch
sämtliche Zellen hindurch. So werden sie körperlich in ge¬
wissem Sinne ganz plausibel eine höhere "Einheit". Aber nun
denke es dir seelisch, geistig durch.

Jede Einzelzelle, jede Urzelle, von der alles ausging,
hatte zweifellos von Beginn an ihre kleine individuelle Seele,
ihre "Zellseele". Noch heute hat jeder Bazillus, jede Amöbe,
jedes Infusorium so sein eigenes Seelchen. Magst du, wie
ich dir schon früher offen ließ, den Begriff Seele nun an sich
fassen wie du willst: um diese einfache Thatsache kommst du
nicht herum. Sie hat an sich absolut nichts Wunderbares, ist im
Gegenteil die geradezu selbstverständliche Annahme. Jeder Ein¬
zeller hat sein einzelnes Zellseelchen. Er empfindet, er orientiert
sich in einfachster Weise über die Dinge, er lernt und er stellt,
was die Hauptsache, auch seelisch offenbar eine Einheit dar, ebenso
wie er als in sich abgeschlossene Zelle eine körperliche Einheit ist.

Nun thun sich solche Einzeller zur Volvoxkugel zusammen.
Einstweilen wahrt in der Kugel jede Einzelzelle ihre Individual¬
existenz, also auch ihr Seelchen. Aber trotzdem siehst du jetzt
sogleich einen Ansatz auch schon zu einer Art, ich möchte sagen,
seelischen Überfließens, genau wie der einfache Zusammenschluß
der vielen Zellen zur Kugel ja doch schon der Ansatz wenig¬
stens zu einer gewissen körperlichen Vereinigung, einer neuen,
höheren Körperbildung ist. Du siehst den Klumpen von ein¬
heitlicher Direktive "beseelt", du siehst, indem die Kugel als
Ganzes von tausend Flimmerfädchen der Zellen bewegt dahin¬
schwimmt, die vielen Zellseelchen gleichsam eine gemeinsame
Orientierung im Sinne einer bestimmten Gesamtbewegung "ge¬

wieder als ein Ich, ein Individuum erſcheint, ja als der wahre
Typus eines ſolchen einheitlichen Ich.

Die Sache iſt beſonders ſeeliſch ſo überaus merkwürdig.
Denke dir: fünfzig Zellen, ſagen wir mal, gehen einen ſolchen
ſozialen Verband ein. Das glückt auch ohne direkte Verſchmel¬
zung vor allem dadurch, daß die Zellwände durchläſſig ſind.
Zum Beiſpiel der Nahrungsſaft kann frei zirkulieren durch
ſämtliche Zellen hindurch. So werden ſie körperlich in ge¬
wiſſem Sinne ganz plauſibel eine höhere „Einheit“. Aber nun
denke es dir ſeeliſch, geiſtig durch.

Jede Einzelzelle, jede Urzelle, von der alles ausging,
hatte zweifellos von Beginn an ihre kleine individuelle Seele,
ihre „Zellſeele“. Noch heute hat jeder Bazillus, jede Amöbe,
jedes Infuſorium ſo ſein eigenes Seelchen. Magſt du, wie
ich dir ſchon früher offen ließ, den Begriff Seele nun an ſich
faſſen wie du willſt: um dieſe einfache Thatſache kommſt du
nicht herum. Sie hat an ſich abſolut nichts Wunderbares, iſt im
Gegenteil die geradezu ſelbſtverſtändliche Annahme. Jeder Ein¬
zeller hat ſein einzelnes Zellſeelchen. Er empfindet, er orientiert
ſich in einfachſter Weiſe über die Dinge, er lernt und er ſtellt,
was die Hauptſache, auch ſeeliſch offenbar eine Einheit dar, ebenſo
wie er als in ſich abgeſchloſſene Zelle eine körperliche Einheit iſt.

Nun thun ſich ſolche Einzeller zur Volvoxkugel zuſammen.
Einſtweilen wahrt in der Kugel jede Einzelzelle ihre Individual¬
exiſtenz, alſo auch ihr Seelchen. Aber trotzdem ſiehſt du jetzt
ſogleich einen Anſatz auch ſchon zu einer Art, ich möchte ſagen,
ſeeliſchen Überfließens, genau wie der einfache Zuſammenſchluß
der vielen Zellen zur Kugel ja doch ſchon der Anſatz wenig¬
ſtens zu einer gewiſſen körperlichen Vereinigung, einer neuen,
höheren Körperbildung iſt. Du ſiehſt den Klumpen von ein¬
heitlicher Direktive „beſeelt“, du ſiehſt, indem die Kugel als
Ganzes von tauſend Flimmerfädchen der Zellen bewegt dahin¬
ſchwimmt, die vielen Zellſeelchen gleichſam eine gemeinſame
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[178/0194] wieder als ein Ich, ein Individuum erſcheint, ja als der wahre Typus eines ſolchen einheitlichen Ich. Die Sache iſt beſonders ſeeliſch ſo überaus merkwürdig. Denke dir: fünfzig Zellen, ſagen wir mal, gehen einen ſolchen ſozialen Verband ein. Das glückt auch ohne direkte Verſchmel¬ zung vor allem dadurch, daß die Zellwände durchläſſig ſind. Zum Beiſpiel der Nahrungsſaft kann frei zirkulieren durch ſämtliche Zellen hindurch. So werden ſie körperlich in ge¬ wiſſem Sinne ganz plauſibel eine höhere „Einheit“. Aber nun denke es dir ſeeliſch, geiſtig durch. Jede Einzelzelle, jede Urzelle, von der alles ausging, hatte zweifellos von Beginn an ihre kleine individuelle Seele, ihre „Zellſeele“. Noch heute hat jeder Bazillus, jede Amöbe, jedes Infuſorium ſo ſein eigenes Seelchen. Magſt du, wie ich dir ſchon früher offen ließ, den Begriff Seele nun an ſich faſſen wie du willſt: um dieſe einfache Thatſache kommſt du nicht herum. Sie hat an ſich abſolut nichts Wunderbares, iſt im Gegenteil die geradezu ſelbſtverſtändliche Annahme. Jeder Ein¬ zeller hat ſein einzelnes Zellſeelchen. Er empfindet, er orientiert ſich in einfachſter Weiſe über die Dinge, er lernt und er ſtellt, was die Hauptſache, auch ſeeliſch offenbar eine Einheit dar, ebenſo wie er als in ſich abgeſchloſſene Zelle eine körperliche Einheit iſt. Nun thun ſich ſolche Einzeller zur Volvoxkugel zuſammen. Einſtweilen wahrt in der Kugel jede Einzelzelle ihre Individual¬ exiſtenz, alſo auch ihr Seelchen. Aber trotzdem ſiehſt du jetzt ſogleich einen Anſatz auch ſchon zu einer Art, ich möchte ſagen, ſeeliſchen Überfließens, genau wie der einfache Zuſammenſchluß der vielen Zellen zur Kugel ja doch ſchon der Anſatz wenig¬ ſtens zu einer gewiſſen körperlichen Vereinigung, einer neuen, höheren Körperbildung iſt. Du ſiehſt den Klumpen von ein¬ heitlicher Direktive „beſeelt“, du ſiehſt, indem die Kugel als Ganzes von tauſend Flimmerfädchen der Zellen bewegt dahin¬ ſchwimmt, die vielen Zellſeelchen gleichſam eine gemeinſame Orientierung im Sinne einer beſtimmten Geſamtbewegung „ge¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/194>, abgerufen am 28.04.2024.