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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Daß sie sich entwickelte, war -- den sozialen Verband
vieler Zellen miteinander einmal zugegeben -- eine in höchstem
Grade nahe liegende, fast selbstverständliche Sache. Denke dir
bloß ein Beispiel durch. Das vom Fressen.

Ein paar Dutzend Zellen legen sich zu sozialem Verbande
fest aneinander und bilden eine schwimmende Kugel. Jede hat
einen feinen schwingenden Fortsatz wie ein vorragendes Haar,
mit dessen Hilfe sie als Einzelwesen im Wasser schwamm.
Jetzt schwingen alle gemeinsam und gewöhnen sich an einen ge¬
wissen Takt, der die ganze Kugel wirbelnd dahin schwimmen
läßt. Das ist an sich noch keine eigentliche Arbeitsteilung, es
ist nur die erste soziale Handlung. Aber es muß, sobald es
einmal da ist, zur ersten Arbeitsteilung ganz von selber führen.

Alle Zellen der Kugel fressen anfangs für sich. Aber da
die Zellränder, mit denen sie festgepreßt gegeneinander liegen,
für Flüssigkeiten durchlässig sind, so kommt es ganz von selbst,
daß verarbeitete Nährsäfte von Zelle zu Zelle überfließen, von
einer gerade fressenden und verdauenden in die umgebenden,
nicht fressenden. Das wäre an sich immer noch bloß eine ein¬
fache Konsequenz des Soziallebens, wenn schon unter Um¬
ständen wenigstens für die Nachbarzellen eine höchst vorteilhafte.
Nun aber: eine natürliche Sache ist, daß solche Zellen, die
gerade fressen und verdauen, träger sind als die anderen,
sie bewegen ihren Ruderfortsatz zeitweilig lässiger, vielleicht gar
nicht. Sie brauchen es auch nicht. Denn -- wieder eine ein¬
fache Konsequenz des Sozialverbandes -- die anderen, lebhaft
schwänzelnden und rudernden Zellen rings umher reißen sie ja
doch mit.

Du merkst: hier bahnt sich schon ein gegenseitiger
Nutzen an: die eine Zelle frißt für mehrere umliegende mit,
aber die umliegenden bewegen sie auch dafür so lange gratis
vorwärts. Die Vorwärtsbewegung ist aber selbst wieder die
Quelle neuen Nahrungsfindens, und wenn unsere fressende
Zelle also auch etwas Nährsaft an die Nachbarn verliert, so

Daß ſie ſich entwickelte, war — den ſozialen Verband
vieler Zellen miteinander einmal zugegeben — eine in höchſtem
Grade nahe liegende, faſt ſelbſtverſtändliche Sache. Denke dir
bloß ein Beiſpiel durch. Das vom Freſſen.

Ein paar Dutzend Zellen legen ſich zu ſozialem Verbande
feſt aneinander und bilden eine ſchwimmende Kugel. Jede hat
einen feinen ſchwingenden Fortſatz wie ein vorragendes Haar,
mit deſſen Hilfe ſie als Einzelweſen im Waſſer ſchwamm.
Jetzt ſchwingen alle gemeinſam und gewöhnen ſich an einen ge¬
wiſſen Takt, der die ganze Kugel wirbelnd dahin ſchwimmen
läßt. Das iſt an ſich noch keine eigentliche Arbeitsteilung, es
iſt nur die erſte ſoziale Handlung. Aber es muß, ſobald es
einmal da iſt, zur erſten Arbeitsteilung ganz von ſelber führen.

Alle Zellen der Kugel freſſen anfangs für ſich. Aber da
die Zellränder, mit denen ſie feſtgepreßt gegeneinander liegen,
für Flüſſigkeiten durchläſſig ſind, ſo kommt es ganz von ſelbſt,
daß verarbeitete Nährſäfte von Zelle zu Zelle überfließen, von
einer gerade freſſenden und verdauenden in die umgebenden,
nicht freſſenden. Das wäre an ſich immer noch bloß eine ein¬
fache Konſequenz des Soziallebens, wenn ſchon unter Um¬
ſtänden wenigſtens für die Nachbarzellen eine höchſt vorteilhafte.
Nun aber: eine natürliche Sache iſt, daß ſolche Zellen, die
gerade freſſen und verdauen, träger ſind als die anderen,
ſie bewegen ihren Ruderfortſatz zeitweilig läſſiger, vielleicht gar
nicht. Sie brauchen es auch nicht. Denn — wieder eine ein¬
fache Konſequenz des Sozialverbandes — die anderen, lebhaft
ſchwänzelnden und rudernden Zellen rings umher reißen ſie ja
doch mit.

Du merkſt: hier bahnt ſich ſchon ein gegenſeitiger
Nutzen an: die eine Zelle frißt für mehrere umliegende mit,
aber die umliegenden bewegen ſie auch dafür ſo lange gratis
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[174/0190] Daß ſie ſich entwickelte, war — den ſozialen Verband vieler Zellen miteinander einmal zugegeben — eine in höchſtem Grade nahe liegende, faſt ſelbſtverſtändliche Sache. Denke dir bloß ein Beiſpiel durch. Das vom Freſſen. Ein paar Dutzend Zellen legen ſich zu ſozialem Verbande feſt aneinander und bilden eine ſchwimmende Kugel. Jede hat einen feinen ſchwingenden Fortſatz wie ein vorragendes Haar, mit deſſen Hilfe ſie als Einzelweſen im Waſſer ſchwamm. Jetzt ſchwingen alle gemeinſam und gewöhnen ſich an einen ge¬ wiſſen Takt, der die ganze Kugel wirbelnd dahin ſchwimmen läßt. Das iſt an ſich noch keine eigentliche Arbeitsteilung, es iſt nur die erſte ſoziale Handlung. Aber es muß, ſobald es einmal da iſt, zur erſten Arbeitsteilung ganz von ſelber führen. Alle Zellen der Kugel freſſen anfangs für ſich. Aber da die Zellränder, mit denen ſie feſtgepreßt gegeneinander liegen, für Flüſſigkeiten durchläſſig ſind, ſo kommt es ganz von ſelbſt, daß verarbeitete Nährſäfte von Zelle zu Zelle überfließen, von einer gerade freſſenden und verdauenden in die umgebenden, nicht freſſenden. Das wäre an ſich immer noch bloß eine ein¬ fache Konſequenz des Soziallebens, wenn ſchon unter Um¬ ſtänden wenigſtens für die Nachbarzellen eine höchſt vorteilhafte. Nun aber: eine natürliche Sache iſt, daß ſolche Zellen, die gerade freſſen und verdauen, träger ſind als die anderen, ſie bewegen ihren Ruderfortſatz zeitweilig läſſiger, vielleicht gar nicht. Sie brauchen es auch nicht. Denn — wieder eine ein¬ fache Konſequenz des Sozialverbandes — die anderen, lebhaft ſchwänzelnden und rudernden Zellen rings umher reißen ſie ja doch mit. Du merkſt: hier bahnt ſich ſchon ein gegenſeitiger Nutzen an: die eine Zelle frißt für mehrere umliegende mit, aber die umliegenden bewegen ſie auch dafür ſo lange gratis vorwärts. Die Vorwärtsbewegung iſt aber ſelbſt wieder die Quelle neuen Nahrungsfindens, und wenn unſere freſſende Zelle alſo auch etwas Nährſaft an die Nachbarn verliert, ſo

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/190>, abgerufen am 28.04.2024.