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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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hat sie doch durch die Bewegung, die ihr auch während des
Fressens angedeiht, alsbald neue Chancen neuer Nahrung, die
sie sonst einbüßte. Wie, wenn sich dieses nützliche Wechsel¬
verhältnis zu einer wirklichen Arbeitsteilung ausbilden ließe?

Von fünf Zellen, wollen wir mal ganz einfach sagen,
übernähme eine, etwa die mittelste, die ganze Ernährung auch
für alle vier umliegenden mit, -- und zum Ersatz und Zweck
würde sie von den vier anderen stets mitbewegt und zwar be¬
sonders intensiv bewegt? Die eine brauchte bloß zu fressen,
ihre ganze Kraft hierher zu konzentrieren. Die anderen brauchten
bloß zu bewegen und hierher alle ihre Fähigkeiten zu legen.
Du siehst sofort: der Nutzen ist unanzweifelbar. In diesem
simpelsten aller Beispiele hast du aber höchstwahrscheinlich den
Kern der ganzen raffinierten Entwickelung, die nach dieser
Seite zwischen einer Volvoxkugel und dem Menschen liegt.

An der Gesamtkugel war folgender Verlauf fast selbst¬
verständlich. Indem die Zellenkugel sich gewohnheitsmäßig ein¬
seitig, mit dem einen Pole voraus, bewegte, war es unver¬
meidlich, daß dieser voraufgestoßene Pol -- resp. die Zellen,
die dort saßen -- die meiste entgegenschwimmende Nahrung
erhielten. An diesem Pol etablierte sich nach und nach ein
fester Stamm ausgesprochener Freßzellen in jenem Sinne. Sie
versorgten den ganzen Stock mit Nahrungssaft und wurden
zur Belohnung oder, was jedenfalls echter die Sache trifft,
einfach aus Nützlichkeitsgründen vom Rest des Zellenkorps mit
bewegt. Nun war der Raum an dem Freßpol da vorne aber
beschränkt. Eine Erweiterung hätte mit dem Wachstum der
Gesamtkolonie ihren großen Nutzen gehabt. Was thun? Denke
dir eine Erdkugel. Auf den Nordpol senkrecht soll es ge¬
bratene Tauben regnen. Nur die paar Leute, die direkt am
Pol stehen, können sie fassen. Haben sie nicht Hände genug,
so prallt der Segen ab und schwirrt wieder in den Raum.
Was werden findige Köpfe machen, um die Hände trotz des
engbeschränkten Standpunktes zu vermehren? Sie graben am

hat ſie doch durch die Bewegung, die ihr auch während des
Freſſens angedeiht, alsbald neue Chancen neuer Nahrung, die
ſie ſonſt einbüßte. Wie, wenn ſich dieſes nützliche Wechſel¬
verhältnis zu einer wirklichen Arbeitsteilung ausbilden ließe?

Von fünf Zellen, wollen wir mal ganz einfach ſagen,
übernähme eine, etwa die mittelſte, die ganze Ernährung auch
für alle vier umliegenden mit, — und zum Erſatz und Zweck
würde ſie von den vier anderen ſtets mitbewegt und zwar be¬
ſonders intenſiv bewegt? Die eine brauchte bloß zu freſſen,
ihre ganze Kraft hierher zu konzentrieren. Die anderen brauchten
bloß zu bewegen und hierher alle ihre Fähigkeiten zu legen.
Du ſiehſt ſofort: der Nutzen iſt unanzweifelbar. In dieſem
ſimpelſten aller Beiſpiele haſt du aber höchſtwahrſcheinlich den
Kern der ganzen raffinierten Entwickelung, die nach dieſer
Seite zwiſchen einer Volvoxkugel und dem Menſchen liegt.

An der Geſamtkugel war folgender Verlauf faſt ſelbſt¬
verſtändlich. Indem die Zellenkugel ſich gewohnheitsmäßig ein¬
ſeitig, mit dem einen Pole voraus, bewegte, war es unver¬
meidlich, daß dieſer voraufgeſtoßene Pol — reſp. die Zellen,
die dort ſaßen — die meiſte entgegenſchwimmende Nahrung
erhielten. An dieſem Pol etablierte ſich nach und nach ein
feſter Stamm ausgeſprochener Freßzellen in jenem Sinne. Sie
verſorgten den ganzen Stock mit Nahrungsſaft und wurden
zur Belohnung oder, was jedenfalls echter die Sache trifft,
einfach aus Nützlichkeitsgründen vom Reſt des Zellenkorps mit
bewegt. Nun war der Raum an dem Freßpol da vorne aber
beſchränkt. Eine Erweiterung hätte mit dem Wachstum der
Geſamtkolonie ihren großen Nutzen gehabt. Was thun? Denke
dir eine Erdkugel. Auf den Nordpol ſenkrecht ſoll es ge¬
bratene Tauben regnen. Nur die paar Leute, die direkt am
Pol ſtehen, können ſie faſſen. Haben ſie nicht Hände genug,
ſo prallt der Segen ab und ſchwirrt wieder in den Raum.
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[175/0191] hat ſie doch durch die Bewegung, die ihr auch während des Freſſens angedeiht, alsbald neue Chancen neuer Nahrung, die ſie ſonſt einbüßte. Wie, wenn ſich dieſes nützliche Wechſel¬ verhältnis zu einer wirklichen Arbeitsteilung ausbilden ließe? Von fünf Zellen, wollen wir mal ganz einfach ſagen, übernähme eine, etwa die mittelſte, die ganze Ernährung auch für alle vier umliegenden mit, — und zum Erſatz und Zweck würde ſie von den vier anderen ſtets mitbewegt und zwar be¬ ſonders intenſiv bewegt? Die eine brauchte bloß zu freſſen, ihre ganze Kraft hierher zu konzentrieren. Die anderen brauchten bloß zu bewegen und hierher alle ihre Fähigkeiten zu legen. Du ſiehſt ſofort: der Nutzen iſt unanzweifelbar. In dieſem ſimpelſten aller Beiſpiele haſt du aber höchſtwahrſcheinlich den Kern der ganzen raffinierten Entwickelung, die nach dieſer Seite zwiſchen einer Volvoxkugel und dem Menſchen liegt. An der Geſamtkugel war folgender Verlauf faſt ſelbſt¬ verſtändlich. Indem die Zellenkugel ſich gewohnheitsmäßig ein¬ ſeitig, mit dem einen Pole voraus, bewegte, war es unver¬ meidlich, daß dieſer voraufgeſtoßene Pol — reſp. die Zellen, die dort ſaßen — die meiſte entgegenſchwimmende Nahrung erhielten. An dieſem Pol etablierte ſich nach und nach ein feſter Stamm ausgeſprochener Freßzellen in jenem Sinne. Sie verſorgten den ganzen Stock mit Nahrungsſaft und wurden zur Belohnung oder, was jedenfalls echter die Sache trifft, einfach aus Nützlichkeitsgründen vom Reſt des Zellenkorps mit bewegt. Nun war der Raum an dem Freßpol da vorne aber beſchränkt. Eine Erweiterung hätte mit dem Wachstum der Geſamtkolonie ihren großen Nutzen gehabt. Was thun? Denke dir eine Erdkugel. Auf den Nordpol ſenkrecht ſoll es ge¬ bratene Tauben regnen. Nur die paar Leute, die direkt am Pol ſtehen, können ſie faſſen. Haben ſie nicht Hände genug, ſo prallt der Segen ab und ſchwirrt wieder in den Raum. Was werden findige Köpfe machen, um die Hände trotz des engbeſchränkten Standpunktes zu vermehren? Sie graben am

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/191>, abgerufen am 28.04.2024.