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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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sibel zu machen versucht. Das Histörchen vom Zahnschmerz
kleidet das allegorisch ein. Natürlich haben Urzellen, die noch
so gut wie gar keine eigentlichen Organe in unserem Sinne
besaßen, auch noch keine Zähne und also auch keine Zahn¬
schmerzen gehabt. Aber gewisse Schäden und Schädlichkeiten
konnten doch die Individuen bei ihnen schon im Lebenskampfe
aufnehmen. Und es ist klar, daß in der angedeuteten Weise
solche individuellen Schädlichkeiten durch "Inzucht" gleichsam
konserviert, zäh bewahrt, durch Verschmelzung von "fremden"
Teilzellen dagegen allmählich paralysiert, wieder beseitigt werden
mußten. Es ist mir nun immerhin eine denkbare Sache, daß
diese ursprüngliche Nützlichkeit wirklich den Ausgangspunkt des
späteren "Naturgesetzes gegen die Inzucht" gebildet haben
könnte. Natürlich müßte das zuerst als "unnützlich" immer
wieder Ausgemerzte später in darwinistischem Sinne durch be¬
sondere vererbte Schutzmittel gleichsam erst "gesetzlich" unmög¬
lich gemacht worden sein. Zum Beispiel eine solche Erschei¬
nung, wie das Impotentwerden der Nachkommen von Bruder¬
ehen, wäre als solche sekundäre, erst nachmals entwickelte Sache
anzusehen. Doch kann es ja auch sein, daß in dem Ganzen
ursprünglich schon ein organisches Grundgesetz steckte gleich
den Gesetzen des Stoffwechsels, des Wachstums, der Fortpflan¬
zung u. s. w. überhaupt. Dann hätten jene Ur-Zwerge sich
einfach gleichsam a priori und wie im Banne einer Art Po¬
larität, die "gleich von gleich" d. h. echten Bruder von echtem
Bruder, abstieß, von Beginn an an dem Bruder vorbeigedrückt
und dem Fremden zugewendet, sobald es Verschmelzung galt.
Ganz zu lösen wird diese Sache jedenfalls einstweilen nicht
sein und die Hauptsache ist nur: die Thatsache bleibt als
solche fest. Die Verschmelzung bevorzugte Fremd zu Fremd,
nicht Bruder zu Bruder. Diese Thatsache öffnet aber, einerlei
wie nun die Erklärung sei, logisch allein schon den Weg zur
Fortsetzung.

ſibel zu machen verſucht. Das Hiſtörchen vom Zahnſchmerz
kleidet das allegoriſch ein. Natürlich haben Urzellen, die noch
ſo gut wie gar keine eigentlichen Organe in unſerem Sinne
beſaßen, auch noch keine Zähne und alſo auch keine Zahn¬
ſchmerzen gehabt. Aber gewiſſe Schäden und Schädlichkeiten
konnten doch die Individuen bei ihnen ſchon im Lebenskampfe
aufnehmen. Und es iſt klar, daß in der angedeuteten Weiſe
ſolche individuellen Schädlichkeiten durch „Inzucht“ gleichſam
konſerviert, zäh bewahrt, durch Verſchmelzung von „fremden“
Teilzellen dagegen allmählich paralyſiert, wieder beſeitigt werden
mußten. Es iſt mir nun immerhin eine denkbare Sache, daß
dieſe urſprüngliche Nützlichkeit wirklich den Ausgangspunkt des
ſpäteren „Naturgeſetzes gegen die Inzucht“ gebildet haben
könnte. Natürlich müßte das zuerſt als „unnützlich“ immer
wieder Ausgemerzte ſpäter in darwiniſtiſchem Sinne durch be¬
ſondere vererbte Schutzmittel gleichſam erſt „geſetzlich“ unmög¬
lich gemacht worden ſein. Zum Beiſpiel eine ſolche Erſchei¬
nung, wie das Impotentwerden der Nachkommen von Bruder¬
ehen, wäre als ſolche ſekundäre, erſt nachmals entwickelte Sache
anzuſehen. Doch kann es ja auch ſein, daß in dem Ganzen
urſprünglich ſchon ein organiſches Grundgeſetz ſteckte gleich
den Geſetzen des Stoffwechſels, des Wachstums, der Fortpflan¬
zung u. ſ. w. überhaupt. Dann hätten jene Ur-Zwerge ſich
einfach gleichſam a priori und wie im Banne einer Art Po¬
larität, die „gleich von gleich“ d. h. echten Bruder von echtem
Bruder, abſtieß, von Beginn an an dem Bruder vorbeigedrückt
und dem Fremden zugewendet, ſobald es Verſchmelzung galt.
Ganz zu löſen wird dieſe Sache jedenfalls einſtweilen nicht
ſein und die Hauptſache iſt nur: die Thatſache bleibt als
ſolche feſt. Die Verſchmelzung bevorzugte Fremd zu Fremd,
nicht Bruder zu Bruder. Dieſe Thatſache öffnet aber, einerlei
wie nun die Erklärung ſei, logiſch allein ſchon den Weg zur
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[158/0174] ſibel zu machen verſucht. Das Hiſtörchen vom Zahnſchmerz kleidet das allegoriſch ein. Natürlich haben Urzellen, die noch ſo gut wie gar keine eigentlichen Organe in unſerem Sinne beſaßen, auch noch keine Zähne und alſo auch keine Zahn¬ ſchmerzen gehabt. Aber gewiſſe Schäden und Schädlichkeiten konnten doch die Individuen bei ihnen ſchon im Lebenskampfe aufnehmen. Und es iſt klar, daß in der angedeuteten Weiſe ſolche individuellen Schädlichkeiten durch „Inzucht“ gleichſam konſerviert, zäh bewahrt, durch Verſchmelzung von „fremden“ Teilzellen dagegen allmählich paralyſiert, wieder beſeitigt werden mußten. Es iſt mir nun immerhin eine denkbare Sache, daß dieſe urſprüngliche Nützlichkeit wirklich den Ausgangspunkt des ſpäteren „Naturgeſetzes gegen die Inzucht“ gebildet haben könnte. Natürlich müßte das zuerſt als „unnützlich“ immer wieder Ausgemerzte ſpäter in darwiniſtiſchem Sinne durch be¬ ſondere vererbte Schutzmittel gleichſam erſt „geſetzlich“ unmög¬ lich gemacht worden ſein. Zum Beiſpiel eine ſolche Erſchei¬ nung, wie das Impotentwerden der Nachkommen von Bruder¬ ehen, wäre als ſolche ſekundäre, erſt nachmals entwickelte Sache anzuſehen. Doch kann es ja auch ſein, daß in dem Ganzen urſprünglich ſchon ein organiſches Grundgeſetz ſteckte gleich den Geſetzen des Stoffwechſels, des Wachstums, der Fortpflan¬ zung u. ſ. w. überhaupt. Dann hätten jene Ur-Zwerge ſich einfach gleichſam a priori und wie im Banne einer Art Po¬ larität, die „gleich von gleich“ d. h. echten Bruder von echtem Bruder, abſtieß, von Beginn an an dem Bruder vorbeigedrückt und dem Fremden zugewendet, ſobald es Verſchmelzung galt. Ganz zu löſen wird dieſe Sache jedenfalls einſtweilen nicht ſein und die Hauptſache iſt nur: die Thatſache bleibt als ſolche feſt. Die Verſchmelzung bevorzugte Fremd zu Fremd, nicht Bruder zu Bruder. Dieſe Thatſache öffnet aber, einerlei wie nun die Erklärung ſei, logiſch allein ſchon den Weg zur Fortſetzung.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/174>, abgerufen am 28.04.2024.