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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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natürliches", das schwächt, degeneriert, schließlich zum Stillstand
der betreffenden ganzen Familie führt.

Nun endlich erinnere dich an dich selbst. Würdest du
deine Schwester, deinen Bruder heiraten? Das juristische "Ge¬
setz" im modernen Kulturstaat verbietet es streng. Worauf
beruht dieses Gesetz? Auf Moralanschauungen, die unendlich
viel älter sind als alle unsere modernen Staaten, ja älter als
unsere ganze Kultur. Wilde Völker ohne Staat und Gesetzes¬
paragraphen und fast jenseits aller Kultur halten die Ge¬
schwisterehe oder die Ehe zwischen Eltern und Kindern für
ebenso verwerflich wie wir. Sind diese Anschauungen, die
älter und eherner zwischen uns stehen als Pyramiden, Religionen
und Kronen bloß eine mystische Schrulle der Menschheit? Der
Arzt, dessen Moralkodex die Statistik ist, sagt: Nein. Er zeigt
dir in Ziffernreihen, daß die größte Wahrscheinlichkeit dafür
besteht, daß Inzucht bis zum Inzest bei den Menschen genau
so gefährlich ist wie bei den Schweinen. Die Nachkommen
aus Bruder-Schwesterehen oder Vater-Tochterehen u. s. w. de¬
generiern hier wie dort. So sagt dir wenigstens eine er¬
drückende Majorität von Ärzten, wollen wir einschränkend sagen.
Die Sache wird aber geradezu "furchtbar wahrscheinlich", wenn
du bedenkst, daß der Mensch nur ein Spezialfall im Reich des
Lebendigen ist und daß die Verurteilung der Inzucht wie ein
brausender Sturm aus den Reihen alles pflanzlichen und tieri¬
schen Lebens über ihm zusammenschlägt.

Was bedeutet das alles? Darwin sagt dir: ein Natur¬
gesetz. Ein Naturgesetz im Lebendigen widerstreitet der Inzucht.
Der oberste Ausdruck ist unsere Aversion gegen Geschwisterehen.
Dem untersten nahe wäre etwa jene Aversion der schwärmenden
Teilzellen bei der Alge, die wir beobachtet haben, gegen
Verschmelzung mit Bruderzellen derselben Teilkolonie. Und
als ersten symbolischen Ausdruck hätten wir unsere Zwergen¬
geschichte, die den wahren Urzustand spiegeln soll. Du siehst in
der Zwergengeschichte selbst: ich habe dir die Sache etwas plau¬

natürliches“, das ſchwächt, degeneriert, ſchließlich zum Stillſtand
der betreffenden ganzen Familie führt.

Nun endlich erinnere dich an dich ſelbſt. Würdeſt du
deine Schweſter, deinen Bruder heiraten? Das juriſtiſche „Ge¬
ſetz“ im modernen Kulturſtaat verbietet es ſtreng. Worauf
beruht dieſes Geſetz? Auf Moralanſchauungen, die unendlich
viel älter ſind als alle unſere modernen Staaten, ja älter als
unſere ganze Kultur. Wilde Völker ohne Staat und Geſetzes¬
paragraphen und faſt jenſeits aller Kultur halten die Ge¬
ſchwiſterehe oder die Ehe zwiſchen Eltern und Kindern für
ebenſo verwerflich wie wir. Sind dieſe Anſchauungen, die
älter und eherner zwiſchen uns ſtehen als Pyramiden, Religionen
und Kronen bloß eine myſtiſche Schrulle der Menſchheit? Der
Arzt, deſſen Moralkodex die Statiſtik iſt, ſagt: Nein. Er zeigt
dir in Ziffernreihen, daß die größte Wahrſcheinlichkeit dafür
beſteht, daß Inzucht bis zum Inzeſt bei den Menſchen genau
ſo gefährlich iſt wie bei den Schweinen. Die Nachkommen
aus Bruder-Schweſterehen oder Vater-Tochterehen u. ſ. w. de¬
generiern hier wie dort. So ſagt dir wenigſtens eine er¬
drückende Majorität von Ärzten, wollen wir einſchränkend ſagen.
Die Sache wird aber geradezu „furchtbar wahrſcheinlich“, wenn
du bedenkſt, daß der Menſch nur ein Spezialfall im Reich des
Lebendigen iſt und daß die Verurteilung der Inzucht wie ein
brauſender Sturm aus den Reihen alles pflanzlichen und tieri¬
ſchen Lebens über ihm zuſammenſchlägt.

Was bedeutet das alles? Darwin ſagt dir: ein Natur¬
geſetz. Ein Naturgeſetz im Lebendigen widerſtreitet der Inzucht.
Der oberſte Ausdruck iſt unſere Averſion gegen Geſchwiſterehen.
Dem unterſten nahe wäre etwa jene Averſion der ſchwärmenden
Teilzellen bei der Alge, die wir beobachtet haben, gegen
Verſchmelzung mit Bruderzellen derſelben Teilkolonie. Und
als erſten ſymboliſchen Ausdruck hätten wir unſere Zwergen¬
geſchichte, die den wahren Urzuſtand ſpiegeln ſoll. Du ſiehſt in
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[157/0173] natürliches“, das ſchwächt, degeneriert, ſchließlich zum Stillſtand der betreffenden ganzen Familie führt. Nun endlich erinnere dich an dich ſelbſt. Würdeſt du deine Schweſter, deinen Bruder heiraten? Das juriſtiſche „Ge¬ ſetz“ im modernen Kulturſtaat verbietet es ſtreng. Worauf beruht dieſes Geſetz? Auf Moralanſchauungen, die unendlich viel älter ſind als alle unſere modernen Staaten, ja älter als unſere ganze Kultur. Wilde Völker ohne Staat und Geſetzes¬ paragraphen und faſt jenſeits aller Kultur halten die Ge¬ ſchwiſterehe oder die Ehe zwiſchen Eltern und Kindern für ebenſo verwerflich wie wir. Sind dieſe Anſchauungen, die älter und eherner zwiſchen uns ſtehen als Pyramiden, Religionen und Kronen bloß eine myſtiſche Schrulle der Menſchheit? Der Arzt, deſſen Moralkodex die Statiſtik iſt, ſagt: Nein. Er zeigt dir in Ziffernreihen, daß die größte Wahrſcheinlichkeit dafür beſteht, daß Inzucht bis zum Inzeſt bei den Menſchen genau ſo gefährlich iſt wie bei den Schweinen. Die Nachkommen aus Bruder-Schweſterehen oder Vater-Tochterehen u. ſ. w. de¬ generiern hier wie dort. So ſagt dir wenigſtens eine er¬ drückende Majorität von Ärzten, wollen wir einſchränkend ſagen. Die Sache wird aber geradezu „furchtbar wahrſcheinlich“, wenn du bedenkſt, daß der Menſch nur ein Spezialfall im Reich des Lebendigen iſt und daß die Verurteilung der Inzucht wie ein brauſender Sturm aus den Reihen alles pflanzlichen und tieri¬ ſchen Lebens über ihm zuſammenſchlägt. Was bedeutet das alles? Darwin ſagt dir: ein Natur¬ geſetz. Ein Naturgeſetz im Lebendigen widerſtreitet der Inzucht. Der oberſte Ausdruck iſt unſere Averſion gegen Geſchwiſterehen. Dem unterſten nahe wäre etwa jene Averſion der ſchwärmenden Teilzellen bei der Alge, die wir beobachtet haben, gegen Verſchmelzung mit Bruderzellen derſelben Teilkolonie. Und als erſten ſymboliſchen Ausdruck hätten wir unſere Zwergen¬ geſchichte, die den wahren Urzuſtand ſpiegeln ſoll. Du ſiehſt in der Zwergengeſchichte ſelbſt: ich habe dir die Sache etwas plau¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/173>, abgerufen am 28.04.2024.