Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Bevorzugung fremder Genossen zum Verschmelzungs¬
akt trieb die kleinen Zwerge zum Wandern. Dabei stießen sie
auf gewisse träge Fremdzwerge aus ungleicher Doppelteilung,
mit denen sie sich in besonders günstiger Weise zu verschmelzen
gewöhnten. So kam Verschiedenheit der Verschmelzungs¬
genossen auf
: die Zweigeschlechtigkeit setzte in dem Sinne ein,
daß man jetzt auch äußerlich zwei Geschlechter unterscheiden
konnte, -- ein kleines, bewegliches, suchendes -- und ein
größeres, trägeres, erwartendes.

Nimm dich selber: das höchst entwickelte Tier der Erde.
Gewahrst du nicht noch in dir selbst den nachschleifenden
Schatten des uralten Vorgangs aus dem Zwergenmärchen der
Urzellenwelt?

Zunächst auch bei dir noch eine feste, durchgreifende Ge¬
staltverschiedenheit der beiden zeugenden Individuen. Nicht
bloß der Bruder scheut den Bruder und sucht einen fremden
Menschen zum Geschlechtsakt. Sondern er sucht auch dort einen
von ihm körperlich sehr wesentlich verschiedenen Menschen: er
sucht als Mann ein Weib. Und das Weib umgekehrt sucht
einen Mann. Schau aber schärfer jetzt in diesen Gegensatz
hinein.

Siehst du sie wohl, -- die Spur des uralten Zwergen¬
märchens, des Märchens von der beweglichen Zelle, die suchte,
und der seßhaften, die erwartete? In dem ungeheuren Lebens-
und Kulturgetriebe der Menschheit ist auch das Weib allerorten

Die Bevorzugung fremder Genoſſen zum Verſchmelzungs¬
akt trieb die kleinen Zwerge zum Wandern. Dabei ſtießen ſie
auf gewiſſe träge Fremdzwerge aus ungleicher Doppelteilung,
mit denen ſie ſich in beſonders günſtiger Weiſe zu verſchmelzen
gewöhnten. So kam Verſchiedenheit der Verſchmelzungs¬
genoſſen auf
: die Zweigeſchlechtigkeit ſetzte in dem Sinne ein,
daß man jetzt auch äußerlich zwei Geſchlechter unterſcheiden
konnte, — ein kleines, bewegliches, ſuchendes — und ein
größeres, trägeres, erwartendes.

Nimm dich ſelber: das höchſt entwickelte Tier der Erde.
Gewahrſt du nicht noch in dir ſelbſt den nachſchleifenden
Schatten des uralten Vorgangs aus dem Zwergenmärchen der
Urzellenwelt?

Zunächſt auch bei dir noch eine feſte, durchgreifende Ge¬
ſtaltverſchiedenheit der beiden zeugenden Individuen. Nicht
bloß der Bruder ſcheut den Bruder und ſucht einen fremden
Menſchen zum Geſchlechtsakt. Sondern er ſucht auch dort einen
von ihm körperlich ſehr weſentlich verſchiedenen Menſchen: er
ſucht als Mann ein Weib. Und das Weib umgekehrt ſucht
einen Mann. Schau aber ſchärfer jetzt in dieſen Gegenſatz
hinein.

Siehſt du ſie wohl, — die Spur des uralten Zwergen¬
märchens, des Märchens von der beweglichen Zelle, die ſuchte,
und der ſeßhaften, die erwartete? In dem ungeheuren Lebens-
und Kulturgetriebe der Menſchheit iſt auch das Weib allerorten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0175" n="159"/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Bevorzugung fremder Geno&#x017F;&#x017F;en zum Ver&#x017F;chmelzungs¬<lb/>
akt trieb die kleinen Zwerge zum Wandern. Dabei &#x017F;tießen &#x017F;ie<lb/>
auf gewi&#x017F;&#x017F;e träge Fremdzwerge aus ungleicher Doppelteilung,<lb/>
mit denen &#x017F;ie &#x017F;ich in be&#x017F;onders gün&#x017F;tiger Wei&#x017F;e zu ver&#x017F;chmelzen<lb/>
gewöhnten. So kam <hi rendition="#g">Ver&#x017F;chiedenheit der Ver&#x017F;chmelzungs¬<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en auf</hi>: die Zweige&#x017F;chlechtigkeit &#x017F;etzte in dem Sinne ein,<lb/>
daß man jetzt auch äußerlich zwei Ge&#x017F;chlechter unter&#x017F;cheiden<lb/>
konnte, &#x2014; ein kleines, bewegliches, &#x017F;uchendes &#x2014; und ein<lb/>
größeres, trägeres, erwartendes.</p><lb/>
        <p>Nimm dich &#x017F;elber: das höch&#x017F;t entwickelte Tier der Erde.<lb/>
Gewahr&#x017F;t du nicht noch in dir &#x017F;elb&#x017F;t den nach&#x017F;chleifenden<lb/>
Schatten des uralten Vorgangs aus dem Zwergenmärchen der<lb/>
Urzellenwelt?</p><lb/>
        <p>Zunäch&#x017F;t auch bei dir noch eine fe&#x017F;te, durchgreifende Ge¬<lb/>
&#x017F;taltver&#x017F;chiedenheit der beiden zeugenden Individuen. Nicht<lb/>
bloß der Bruder &#x017F;cheut den Bruder und &#x017F;ucht einen fremden<lb/>
Men&#x017F;chen zum Ge&#x017F;chlechtsakt. Sondern er &#x017F;ucht auch dort einen<lb/>
von ihm körperlich &#x017F;ehr we&#x017F;entlich ver&#x017F;chiedenen Men&#x017F;chen: er<lb/>
&#x017F;ucht als Mann ein Weib. Und das Weib umgekehrt &#x017F;ucht<lb/>
einen Mann. Schau aber &#x017F;chärfer jetzt in die&#x017F;en Gegen&#x017F;atz<lb/>
hinein.</p><lb/>
        <p>Sieh&#x017F;t du &#x017F;ie wohl, &#x2014; die Spur des uralten Zwergen¬<lb/>
märchens, des Märchens von der beweglichen Zelle, die &#x017F;uchte,<lb/>
und der &#x017F;eßhaften, die erwartete? In dem ungeheuren Lebens-<lb/>
und Kulturgetriebe der Men&#x017F;chheit i&#x017F;t auch das Weib allerorten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0175] Die Bevorzugung fremder Genoſſen zum Verſchmelzungs¬ akt trieb die kleinen Zwerge zum Wandern. Dabei ſtießen ſie auf gewiſſe träge Fremdzwerge aus ungleicher Doppelteilung, mit denen ſie ſich in beſonders günſtiger Weiſe zu verſchmelzen gewöhnten. So kam Verſchiedenheit der Verſchmelzungs¬ genoſſen auf: die Zweigeſchlechtigkeit ſetzte in dem Sinne ein, daß man jetzt auch äußerlich zwei Geſchlechter unterſcheiden konnte, — ein kleines, bewegliches, ſuchendes — und ein größeres, trägeres, erwartendes. Nimm dich ſelber: das höchſt entwickelte Tier der Erde. Gewahrſt du nicht noch in dir ſelbſt den nachſchleifenden Schatten des uralten Vorgangs aus dem Zwergenmärchen der Urzellenwelt? Zunächſt auch bei dir noch eine feſte, durchgreifende Ge¬ ſtaltverſchiedenheit der beiden zeugenden Individuen. Nicht bloß der Bruder ſcheut den Bruder und ſucht einen fremden Menſchen zum Geſchlechtsakt. Sondern er ſucht auch dort einen von ihm körperlich ſehr weſentlich verſchiedenen Menſchen: er ſucht als Mann ein Weib. Und das Weib umgekehrt ſucht einen Mann. Schau aber ſchärfer jetzt in dieſen Gegenſatz hinein. Siehſt du ſie wohl, — die Spur des uralten Zwergen¬ märchens, des Märchens von der beweglichen Zelle, die ſuchte, und der ſeßhaften, die erwartete? In dem ungeheuren Lebens- und Kulturgetriebe der Menſchheit iſt auch das Weib allerorten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/175
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/175>, abgerufen am 28.04.2024.