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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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die einkriechenden Mücken zunächst im untersten Stockwerk bei
den weiblichen Blüten eine Weile ein, die zweite hält die
zurückkriechenden nochmals in der männlichen Zone zum Be¬
pudern fest.

Und solcher Kunststücke, wie gesagt, ist Legion. Wo die
Insekten die Übertragung von einer Blüte auf eine zweite
nicht besorgen, da vermittelt's der Wind -- der Wind, der dich
selber, wenn du im Frühling am Haselstrauch vorbeigehst, oft
über und über mit Samen überstäubt. In seltenen Fällen ist
es sogar auch höheren Pflanzen noch geglückt, ihre zähe Un¬
beweglichkeit für diesen einen Fall vollständig zu überwinden.
In den blauen Wassern des Gardasees triffst du auf die nied¬
liche Vallisneria, eine Wasserpflanze, die niemals beide Ge¬
schlechtsteile in einer Blüte vereinigt trägt und doch keinerlei
Insekt braucht, um zur Befruchtung zu kommen. Ihre eine
Blüte, die bloß einen weiblichen Fruchtknoten enthält, wächst
an langem Stiel vom Grunde zur Wasseroberfläche herauf.
Ihre andere Blüte aber, die bloß männlich ist, also klebrigen
Samen erzeugt, reißt schon als Knospe unten vom Pflanzen¬
stock einfach ganz ab, schwebt im Wasser aufwärts und segelt
lustig wie ein loser kleiner Kahn mit dem Winde und selbst¬
ständig auf dem Wasserspiegel dahin, bis sie die Weiberblüte
findet, die sie dann landend befruchten kann.

Gehe aber noch weiter. Zu höheren Tieren. Frage einen
gewiegten Viehzüchter, was er von Inzucht oder noch enger, von
Inzestzucht denkt. Wenn man Tiere, z. B. Schweine, aus der¬
selben Familie, vor allem Geschwister untereinander, immer
wieder ohne Blutauffrischung zur Paarung bringt, so stellen
sich in der Folge der Generationen die seltsamsten Verfalls¬
erscheinungen ein. Die Tiere werden schwächlich, kurzlebig, im
männlichen wie im weiblichen Geschlecht schließlich meist im¬
potent. Jeder Viehzüchter weiß, daß er da vorsichtig sein muß,
daß die Inzucht in extremer Form unabänderlich zu Schäden
führt, -- er sagt dir einfach: die Inzucht ist etwas "Wider¬

die einkriechenden Mücken zunächſt im unterſten Stockwerk bei
den weiblichen Blüten eine Weile ein, die zweite hält die
zurückkriechenden nochmals in der männlichen Zone zum Be¬
pudern feſt.

Und ſolcher Kunſtſtücke, wie geſagt, iſt Legion. Wo die
Inſekten die Übertragung von einer Blüte auf eine zweite
nicht beſorgen, da vermittelt's der Wind — der Wind, der dich
ſelber, wenn du im Frühling am Haſelſtrauch vorbeigehſt, oft
über und über mit Samen überſtäubt. In ſeltenen Fällen iſt
es ſogar auch höheren Pflanzen noch geglückt, ihre zähe Un¬
beweglichkeit für dieſen einen Fall vollſtändig zu überwinden.
In den blauen Waſſern des Gardaſees triffſt du auf die nied¬
liche Vallisneria, eine Waſſerpflanze, die niemals beide Ge¬
ſchlechtsteile in einer Blüte vereinigt trägt und doch keinerlei
Inſekt braucht, um zur Befruchtung zu kommen. Ihre eine
Blüte, die bloß einen weiblichen Fruchtknoten enthält, wächſt
an langem Stiel vom Grunde zur Waſſeroberfläche herauf.
Ihre andere Blüte aber, die bloß männlich iſt, alſo klebrigen
Samen erzeugt, reißt ſchon als Knoſpe unten vom Pflanzen¬
ſtock einfach ganz ab, ſchwebt im Waſſer aufwärts und ſegelt
luſtig wie ein loſer kleiner Kahn mit dem Winde und ſelbſt¬
ſtändig auf dem Waſſerſpiegel dahin, bis ſie die Weiberblüte
findet, die ſie dann landend befruchten kann.

Gehe aber noch weiter. Zu höheren Tieren. Frage einen
gewiegten Viehzüchter, was er von Inzucht oder noch enger, von
Inzeſtzucht denkt. Wenn man Tiere, z. B. Schweine, aus der¬
ſelben Familie, vor allem Geſchwiſter untereinander, immer
wieder ohne Blutauffriſchung zur Paarung bringt, ſo ſtellen
ſich in der Folge der Generationen die ſeltſamſten Verfalls¬
erſcheinungen ein. Die Tiere werden ſchwächlich, kurzlebig, im
männlichen wie im weiblichen Geſchlecht ſchließlich meiſt im¬
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[156/0172] die einkriechenden Mücken zunächſt im unterſten Stockwerk bei den weiblichen Blüten eine Weile ein, die zweite hält die zurückkriechenden nochmals in der männlichen Zone zum Be¬ pudern feſt. Und ſolcher Kunſtſtücke, wie geſagt, iſt Legion. Wo die Inſekten die Übertragung von einer Blüte auf eine zweite nicht beſorgen, da vermittelt's der Wind — der Wind, der dich ſelber, wenn du im Frühling am Haſelſtrauch vorbeigehſt, oft über und über mit Samen überſtäubt. In ſeltenen Fällen iſt es ſogar auch höheren Pflanzen noch geglückt, ihre zähe Un¬ beweglichkeit für dieſen einen Fall vollſtändig zu überwinden. In den blauen Waſſern des Gardaſees triffſt du auf die nied¬ liche Vallisneria, eine Waſſerpflanze, die niemals beide Ge¬ ſchlechtsteile in einer Blüte vereinigt trägt und doch keinerlei Inſekt braucht, um zur Befruchtung zu kommen. Ihre eine Blüte, die bloß einen weiblichen Fruchtknoten enthält, wächſt an langem Stiel vom Grunde zur Waſſeroberfläche herauf. Ihre andere Blüte aber, die bloß männlich iſt, alſo klebrigen Samen erzeugt, reißt ſchon als Knoſpe unten vom Pflanzen¬ ſtock einfach ganz ab, ſchwebt im Waſſer aufwärts und ſegelt luſtig wie ein loſer kleiner Kahn mit dem Winde und ſelbſt¬ ſtändig auf dem Waſſerſpiegel dahin, bis ſie die Weiberblüte findet, die ſie dann landend befruchten kann. Gehe aber noch weiter. Zu höheren Tieren. Frage einen gewiegten Viehzüchter, was er von Inzucht oder noch enger, von Inzeſtzucht denkt. Wenn man Tiere, z. B. Schweine, aus der¬ ſelben Familie, vor allem Geſchwiſter untereinander, immer wieder ohne Blutauffriſchung zur Paarung bringt, ſo ſtellen ſich in der Folge der Generationen die ſeltſamſten Verfalls¬ erſcheinungen ein. Die Tiere werden ſchwächlich, kurzlebig, im männlichen wie im weiblichen Geſchlecht ſchließlich meiſt im¬ potent. Jeder Viehzüchter weiß, daß er da vorſichtig ſein muß, daß die Inzucht in extremer Form unabänderlich zu Schäden führt, — er ſagt dir einfach: die Inzucht iſt etwas „Wider¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/172>, abgerufen am 28.04.2024.