Strand. Er liegt geradezu handgreiflich an einer gewissen Ecke der irdischen Überlieferung. Und zwar wirklich ein Strand.
Der Ort ist Schweden. Da findest du uralte Sandsteine, abgelagert in der untersten Abteilung der kambrischen Epoche der Erdentwickelung. Die kambrischen Steine sind unvergleich¬ lich viel älter als jene Juraschiefer, in denen die Atlantosaurier, Archäopteryxe und Ichthyosaurier liegen. Dem sinnenden Forscherblick klappen sich aber auch diese Gesteine noch aus¬ einander wie ein Buch. In den kleinen Spuren, die ihnen da in Schweden eingeprägt sind, erscheint dir das rege Leben eines ganz ur-urweltlichen Meeresufers. Obwohl die Jahres¬ millionen sich über ihm gehäuft haben wie ein Turm, hat der alte Sand, zu Stein zusammengebacken, die unscheinbarsten Zeichen bewahrt. Da ist die Fährte des kriechenden Wurms, des Krebses, der Schnecke. Da ist der vierteilige, wie ein grobes Kreuz ausschauende Sandausguß der Magenhöhle einer glashellen Qualle, die der Sturm ans Ufer geworfen hat und die dann im Seichtwasser zu Grunde gegangen ist, wie es heute noch ihren blauschillernden Leidensschwestern am Ostsee¬ strande geschieht. Da ist die Kritzellinie, die der leicht vom Wellenzug bewegte grüne Tang der Strandzone in dem feinsten Sandschlamm gezeichnet hat.
Er hat an sich eigentlich nicht viel Besonderes, dieser alte kambrische Strand in Schweden. Und doch übt er auf den Forscher eine ganz eigentümliche Magie aus. Es ist der letzte Strand mit organischem Leben, den er kennt. Jenseits der kambrischen Formation Schwedens, aus Gesteinsschichten, die noch älter sind, haben wir keinen einzigen Pflanzen- oder Tierrest mehr. Die Gesteine, die zunächst noch weiter zurückgehen, befinden sich in einem eigentümlichen Zustande, der sie früher oder später betroffen haben muß. Ihre innerste Struktur ist total ver¬ wandelt: auch wenn sie organische Reste enthalten haben, so sind diese doch in der Masse aufgelöst und unkenntlich gemacht.
Strand. Er liegt geradezu handgreiflich an einer gewiſſen Ecke der irdiſchen Überlieferung. Und zwar wirklich ein Strand.
Der Ort iſt Schweden. Da findeſt du uralte Sandſteine, abgelagert in der unterſten Abteilung der kambriſchen Epoche der Erdentwickelung. Die kambriſchen Steine ſind unvergleich¬ lich viel älter als jene Juraſchiefer, in denen die Atlantoſaurier, Archäopteryxe und Ichthyoſaurier liegen. Dem ſinnenden Forſcherblick klappen ſich aber auch dieſe Geſteine noch aus¬ einander wie ein Buch. In den kleinen Spuren, die ihnen da in Schweden eingeprägt ſind, erſcheint dir das rege Leben eines ganz ur-urweltlichen Meeresufers. Obwohl die Jahres¬ millionen ſich über ihm gehäuft haben wie ein Turm, hat der alte Sand, zu Stein zuſammengebacken, die unſcheinbarſten Zeichen bewahrt. Da iſt die Fährte des kriechenden Wurms, des Krebſes, der Schnecke. Da iſt der vierteilige, wie ein grobes Kreuz ausſchauende Sandausguß der Magenhöhle einer glashellen Qualle, die der Sturm ans Ufer geworfen hat und die dann im Seichtwaſſer zu Grunde gegangen iſt, wie es heute noch ihren blauſchillernden Leidensſchweſtern am Oſtſee¬ ſtrande geſchieht. Da iſt die Kritzellinie, die der leicht vom Wellenzug bewegte grüne Tang der Strandzone in dem feinſten Sandſchlamm gezeichnet hat.
Er hat an ſich eigentlich nicht viel Beſonderes, dieſer alte kambriſche Strand in Schweden. Und doch übt er auf den Forſcher eine ganz eigentümliche Magie aus. Es iſt der letzte Strand mit organiſchem Leben, den er kennt. Jenſeits der kambriſchen Formation Schwedens, aus Geſteinsſchichten, die noch älter ſind, haben wir keinen einzigen Pflanzen- oder Tierreſt mehr. Die Geſteine, die zunächſt noch weiter zurückgehen, befinden ſich in einem eigentümlichen Zuſtande, der ſie früher oder ſpäter betroffen haben muß. Ihre innerſte Struktur iſt total ver¬ wandelt: auch wenn ſie organiſche Reſte enthalten haben, ſo ſind dieſe doch in der Maſſe aufgelöſt und unkenntlich gemacht.
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Strand. Er liegt geradezu handgreiflich an einer gewiſſen
Ecke der irdiſchen Überlieferung. Und zwar wirklich ein
Strand.
Der Ort iſt Schweden. Da findeſt du uralte Sandſteine,
abgelagert in der unterſten Abteilung der kambriſchen Epoche
der Erdentwickelung. Die kambriſchen Steine ſind unvergleich¬
lich viel älter als jene Juraſchiefer, in denen die Atlantoſaurier,
Archäopteryxe und Ichthyoſaurier liegen. Dem ſinnenden
Forſcherblick klappen ſich aber auch dieſe Geſteine noch aus¬
einander wie ein Buch. In den kleinen Spuren, die ihnen da
in Schweden eingeprägt ſind, erſcheint dir das rege Leben
eines ganz ur-urweltlichen Meeresufers. Obwohl die Jahres¬
millionen ſich über ihm gehäuft haben wie ein Turm, hat der
alte Sand, zu Stein zuſammengebacken, die unſcheinbarſten
Zeichen bewahrt. Da iſt die Fährte des kriechenden Wurms,
des Krebſes, der Schnecke. Da iſt der vierteilige, wie ein
grobes Kreuz ausſchauende Sandausguß der Magenhöhle einer
glashellen Qualle, die der Sturm ans Ufer geworfen hat und
die dann im Seichtwaſſer zu Grunde gegangen iſt, wie es
heute noch ihren blauſchillernden Leidensſchweſtern am Oſtſee¬
ſtrande geſchieht. Da iſt die Kritzellinie, die der leicht vom
Wellenzug bewegte grüne Tang der Strandzone in dem feinſten
Sandſchlamm gezeichnet hat.
Er hat an ſich eigentlich nicht viel Beſonderes, dieſer alte
kambriſche Strand in Schweden. Und doch übt er auf den Forſcher
eine ganz eigentümliche Magie aus. Es iſt der letzte Strand
mit organiſchem Leben, den er kennt. Jenſeits der kambriſchen
Formation Schwedens, aus Geſteinsſchichten, die noch älter
ſind, haben wir keinen einzigen Pflanzen- oder Tierreſt mehr.
Die Geſteine, die zunächſt noch weiter zurückgehen, befinden ſich
in einem eigentümlichen Zuſtande, der ſie früher oder ſpäter
betroffen haben muß. Ihre innerſte Struktur iſt total ver¬
wandelt: auch wenn ſie organiſche Reſte enthalten haben, ſo
ſind dieſe doch in der Maſſe aufgelöſt und unkenntlich gemacht.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/105>, abgerufen am 23.11.2024.
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