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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

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Versuch über den Ursprung
für einer Linie er abstammete; angesehen er einen
kahlen Kopf, eine stumpfe Nase, und hervorra-
gende Augen hatte, und unter sich zur Erden sahe:
Drittens, brachte er einige Fabeln des Aesopus in
Verse, wahrscheinlich aus Hochachtung für die
Thiere überhaupt, und aus Liebe für seine Fa-
milie ins besondere.

Jn dem Verfolg der Zeiten haben die Weibs-
personen, mit welchen diese Sylvani gern ge-
schlaffen hätten, sey es daß Menschen sie so geleh-
ret, oder daß sie es aus Forcht vor ihrer Gestalt
gethan, derselben Beywohnung gemieden, so
daß unsere Weltweisen genöthiget waren, sich mit
den Thieren zu vermischen. Dieses verursachte,
daß das haarichte Wesen ihrer Nachkommen sta-
felweise höher als bis auf die Mitte ihres Leibs
gewachsen; in der ersten Generation kam es ihnen
bis an die Arme, in der andern bemächtigte es sich
des Halses, und in der dritten stieg es über den
Kopf hin, bis so das verdorbene Aussehen, in wel-
chem die Species sich gegenwärtig versencket befin-
det, vollkommen entstanden. Doch müssen wir
hier anmercken, daß einige wenige gewesen, wel-
che das allgemeine Unglück nicht betroffen, indem
es zu allen und jeden Zeiten noch einige, von Vor-
urtheilen nicht eingenommene, Weibspersonen ge-
geben, durch derer tugendhaftes Mittel die gänz-
liche Auslöschung der Art, wie sie ursprünglich ge-
wesen, ist verhütet worden. Und eben so ist merck-
würdig, daß ihre Natur auch selbst, wenn sie sich
mit den Thieren vermischt haben, nicht gantz verlo-
ren gegangen, angesehen sich immer verwunderliche

Eigen-

Verſuch uͤber den Urſprung
fuͤr einer Linie er abſtammete; angeſehen er einen
kahlen Kopf, eine ſtumpfe Naſe, und hervorra-
gende Augen hatte, und unter ſich zur Erden ſahe:
Drittens, brachte er einige Fabeln des Aeſopus in
Verſe, wahrſcheinlich aus Hochachtung fuͤr die
Thiere uͤberhaupt, und aus Liebe fuͤr ſeine Fa-
milie ins beſondere.

Jn dem Verfolg der Zeiten haben die Weibs-
perſonen, mit welchen dieſe Sylvani gern ge-
ſchlaffen haͤtten, ſey es daß Menſchen ſie ſo geleh-
ret, oder daß ſie es aus Forcht vor ihrer Geſtalt
gethan, derſelben Beywohnung gemieden, ſo
daß unſere Weltweiſen genoͤthiget waren, ſich mit
den Thieren zu vermiſchen. Dieſes verurſachte,
daß das haarichte Weſen ihrer Nachkommen ſta-
felweiſe hoͤher als bis auf die Mitte ihres Leibs
gewachſen; in der erſten Generation kam es ihnen
bis an die Arme, in der andern bemaͤchtigte es ſich
des Halſes, und in der dritten ſtieg es uͤber den
Kopf hin, bis ſo das verdorbene Ausſehen, in wel-
chem die Species ſich gegenwaͤrtig verſencket befin-
det, vollkommen entſtanden. Doch muͤſſen wir
hier anmercken, daß einige wenige geweſen, wel-
che das allgemeine Ungluͤck nicht betroffen, indem
es zu allen und jeden Zeiten noch einige, von Vor-
urtheilen nicht eingenommene, Weibsperſonen ge-
geben, durch derer tugendhaftes Mittel die gaͤnz-
liche Ausloͤſchung der Art, wie ſie urſpruͤnglich ge-
weſen, iſt verhuͤtet worden. Und eben ſo iſt merck-
wuͤrdig, daß ihre Natur auch ſelbſt, wenn ſie ſich
mit den Thieren vermiſcht haben, nicht gantz verlo-
ren gegangen, angeſehen ſich immer verwunderliche

Eigen-
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[44/0046] Verſuch uͤber den Urſprung fuͤr einer Linie er abſtammete; angeſehen er einen kahlen Kopf, eine ſtumpfe Naſe, und hervorra- gende Augen hatte, und unter ſich zur Erden ſahe: Drittens, brachte er einige Fabeln des Aeſopus in Verſe, wahrſcheinlich aus Hochachtung fuͤr die Thiere uͤberhaupt, und aus Liebe fuͤr ſeine Fa- milie ins beſondere. Jn dem Verfolg der Zeiten haben die Weibs- perſonen, mit welchen dieſe Sylvani gern ge- ſchlaffen haͤtten, ſey es daß Menſchen ſie ſo geleh- ret, oder daß ſie es aus Forcht vor ihrer Geſtalt gethan, derſelben Beywohnung gemieden, ſo daß unſere Weltweiſen genoͤthiget waren, ſich mit den Thieren zu vermiſchen. Dieſes verurſachte, daß das haarichte Weſen ihrer Nachkommen ſta- felweiſe hoͤher als bis auf die Mitte ihres Leibs gewachſen; in der erſten Generation kam es ihnen bis an die Arme, in der andern bemaͤchtigte es ſich des Halſes, und in der dritten ſtieg es uͤber den Kopf hin, bis ſo das verdorbene Ausſehen, in wel- chem die Species ſich gegenwaͤrtig verſencket befin- det, vollkommen entſtanden. Doch muͤſſen wir hier anmercken, daß einige wenige geweſen, wel- che das allgemeine Ungluͤck nicht betroffen, indem es zu allen und jeden Zeiten noch einige, von Vor- urtheilen nicht eingenommene, Weibsperſonen ge- geben, durch derer tugendhaftes Mittel die gaͤnz- liche Ausloͤſchung der Art, wie ſie urſpruͤnglich ge- weſen, iſt verhuͤtet worden. Und eben ſo iſt merck- wuͤrdig, daß ihre Natur auch ſelbſt, wenn ſie ſich mit den Thieren vermiſcht haben, nicht gantz verlo- ren gegangen, angeſehen ſich immer verwunderliche Eigen-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/46>, abgerufen am 27.04.2024.