[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.Wie weit sich ein Poet nemlich, wenn wir durch eine willkührliche Zu-sammensetzung der Bilder neue Vorstellungen er- schaffen: Diese Zusammensetzung ist entweder schlechterdings unmöglich, wo man solche getrenn- te Bilder zusammenordnet, die einander wider- sprechen, und mit einander wesentlich streiten; die darum Herr Baumgarten Utopische Erdichtun- gen genennet hat, weil sie in keinem möglichen Zu- sammenhange der Dinge Platz haben können, ja nicht einmahl können gedacht werden. Oder die Zusammensetzung der Erdichtung ist möglich; Al- les was möglich ist, hat schon einige Wahrschein- lichkeit, und gehöret entweder zu dem gegenwärti- gen Zusammenhang der Dinge, oder zu einem an- dern möglichen Zusammenhang. Jst das erdichtete Mögliche in der gegenwärtigen Welt möglich, so ist es eben darum, weil es ohne Widerspruch in dieser Welt würcklich seyn könnte, wahr: Jst es aber in einer andern Welt möglich, so ist es eben darum, weil es nicht unmöglich ist, und doch mit der gegenwärtigen Ordnung der Dinge nicht völ- lig übereinstimmet, wahrscheinlich, oder eine he- terocosmische Erdichtung. Zu einer Erdich- tung wird demnach überhaupt nicht mehr erfor- dert, als daß sie möglich sey: Der Erdichtung ste- het nicht die Wahrheit, sondern das Unmögliche entgegen; denn die Wahrheit oder das Wirckliche gehöret mit dem Möglichen unter ein Geschlecht. Aber der Wahn wird einer sichern und begründten Erkenntniß des Wahren und Falschen entgegen ge- setzet: Der Wahn gehet nicht bloß auf die Mög- lichkeit der Dinge, sondern er wird erkennt und entde-
Wie weit ſich ein Poet nemlich, wenn wir durch eine willkuͤhrliche Zu-ſammenſetzung der Bilder neue Vorſtellungen er- ſchaffen: Dieſe Zuſammenſetzung iſt entweder ſchlechterdings unmoͤglich, wo man ſolche getrenn- te Bilder zuſammenordnet, die einander wider- ſprechen, und mit einander weſentlich ſtreiten; die darum Herr Baumgarten Utopiſche Erdichtun- gen genennet hat, weil ſie in keinem moͤglichen Zu- ſammenhange der Dinge Platz haben koͤnnen, ja nicht einmahl koͤnnen gedacht werden. Oder die Zuſammenſetzung der Erdichtung iſt moͤglich; Al- les was moͤglich iſt, hat ſchon einige Wahrſchein- lichkeit, und gehoͤret entweder zu dem gegenwaͤrti- gen Zuſammenhang der Dinge, oder zu einem an- dern moͤglichen Zuſammenhang. Jſt das erdichtete Moͤgliche in der gegenwaͤrtigen Welt moͤglich, ſo iſt es eben darum, weil es ohne Widerſpruch in dieſer Welt wuͤrcklich ſeyn koͤnnte, wahr: Jſt es aber in einer andern Welt moͤglich, ſo iſt es eben darum, weil es nicht unmoͤglich iſt, und doch mit der gegenwaͤrtigen Ordnung der Dinge nicht voͤl- lig uͤbereinſtimmet, wahrſcheinlich, oder eine he- terocoſmiſche Erdichtung. Zu einer Erdich- tung wird demnach uͤberhaupt nicht mehr erfor- dert, als daß ſie moͤglich ſey: Der Erdichtung ſte- het nicht die Wahrheit, ſondern das Unmoͤgliche entgegen; denn die Wahrheit oder das Wirckliche gehoͤret mit dem Moͤglichen unter ein Geſchlecht. Aber der Wahn wird einer ſichern und begruͤndten Erkenntniß des Wahren und Falſchen entgegen ge- ſetzet: Der Wahn gehet nicht bloß auf die Moͤg- lichkeit der Dinge, ſondern er wird erkennt und entde-
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Wie weit ſich ein Poet
nemlich, wenn wir durch eine willkuͤhrliche Zu-
ſammenſetzung der Bilder neue Vorſtellungen er-
ſchaffen: Dieſe Zuſammenſetzung iſt entweder
ſchlechterdings unmoͤglich, wo man ſolche getrenn-
te Bilder zuſammenordnet, die einander wider-
ſprechen, und mit einander weſentlich ſtreiten; die
darum Herr Baumgarten Utopiſche Erdichtun-
gen genennet hat, weil ſie in keinem moͤglichen Zu-
ſammenhange der Dinge Platz haben koͤnnen, ja
nicht einmahl koͤnnen gedacht werden. Oder die
Zuſammenſetzung der Erdichtung iſt moͤglich; Al-
les was moͤglich iſt, hat ſchon einige Wahrſchein-
lichkeit, und gehoͤret entweder zu dem gegenwaͤrti-
gen Zuſammenhang der Dinge, oder zu einem an-
dern moͤglichen Zuſammenhang. Jſt das erdichtete
Moͤgliche in der gegenwaͤrtigen Welt moͤglich, ſo
iſt es eben darum, weil es ohne Widerſpruch in
dieſer Welt wuͤrcklich ſeyn koͤnnte, wahr: Jſt es
aber in einer andern Welt moͤglich, ſo iſt es eben
darum, weil es nicht unmoͤglich iſt, und doch mit
der gegenwaͤrtigen Ordnung der Dinge nicht voͤl-
lig uͤbereinſtimmet, wahrſcheinlich, oder eine he-
terocoſmiſche Erdichtung. Zu einer Erdich-
tung wird demnach uͤberhaupt nicht mehr erfor-
dert, als daß ſie moͤglich ſey: Der Erdichtung ſte-
het nicht die Wahrheit, ſondern das Unmoͤgliche
entgegen; denn die Wahrheit oder das Wirckliche
gehoͤret mit dem Moͤglichen unter ein Geſchlecht.
Aber der Wahn wird einer ſichern und begruͤndten
Erkenntniß des Wahren und Falſchen entgegen ge-
ſetzet: Der Wahn gehet nicht bloß auf die Moͤg-
lichkeit der Dinge, ſondern er wird erkennt und
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