[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743.Neue Fabeln. III. ES hatte die behertzte MeiseDie Meise und der Sperling. Das warme Jahr durch ihre Speise Nach eignem Wünschen und Verlangen Vollauf und ohne Müh empfangen. Bald fieng der Nordwind an zu rasen, Es wurde durch sein kaltes Blasen Des Berges Gipfel silberweiß, Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß, Das Feld als Stein, und durch die Kälte Sah man in vielen Bäumen Spälte. Ey Vogel, nimmst du so verlieb Mit der mit Eiß gewürtzten Speise? So sprach der kleine Saatedieb, Der Sperling, zu der muntern Meise. Jch fürchte sehr, du müssest sterben, Und durch der Kälte Grimm verderben. Was hilft dich izt dein stetes Springen, Dein Hüpfen, Fliegen, und dein Singen, Dein Zizipa, dein Zizipa? Sing eh: O weh! mein End ist nah! Sieh doch, wie hab ich es so gut, Jch zeuge täglich frisches Blut; Von Ueberfluß an Speltz und Gersten Mögt ich, du siehst es selbst, zerbersten. Die aufgeweckte Meise spricht: Der Meisen Stamm vergehet nicht, So lang im Boden Würmer leben, Und Mücken in den Lüften schweben. Mein Freund, es wär ein gleiches Wunder, Gieng ein Geschlecht, mein oder deines, unter. Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt, Der lebt vergnügt, und unverzagt. Der holde Lentz mit seinen Schätzen Wird meinen Mangel schon ersetzen. Jch singe schon, als wär er da, Mein Zizipa, mein Zizipa. IV.
Neue Fabeln. III. ES hatte die behertzte MeiſeDie Meiſe und der Sperling. Das warme Jahr durch ihre Speiſe Nach eignem Wuͤnſchen und Verlangen Vollauf und ohne Muͤh empfangen. Bald fieng der Nordwind an zu raſen, Es wurde durch ſein kaltes Blaſen Des Berges Gipfel ſilberweiß, Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß, Das Feld als Stein, und durch die Kaͤlte Sah man in vielen Baͤumen Spaͤlte. Ey Vogel, nimmſt du ſo verlieb Mit der mit Eiß gewuͤrtzten Speiſe? So ſprach der kleine Saatedieb, Der Sperling, zu der muntern Meiſe. Jch fuͤrchte ſehr, du muͤſſeſt ſterben, Und durch der Kaͤlte Grimm verderben. Was hilft dich izt dein ſtetes Springen, Dein Huͤpfen, Fliegen, und dein Singen, Dein Zizipa, dein Zizipa? Sing eh: O weh! mein End iſt nah! Sieh doch, wie hab ich es ſo gut, Jch zeuge taͤglich friſches Blut; Von Ueberfluß an Speltz und Gerſten Moͤgt ich, du ſiehſt es ſelbſt, zerberſten. Die aufgeweckte Meiſe ſpricht: Der Meiſen Stamm vergehet nicht, So lang im Boden Wuͤrmer leben, Und Muͤcken in den Luͤften ſchweben. Mein Freund, es waͤr ein gleiches Wunder, Gieng ein Geſchlecht, mein oder deines, unter. Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt, Der lebt vergnuͤgt, und unverzagt. Der holde Lentz mit ſeinen Schaͤtzen Wird meinen Mangel ſchon erſetzen. Jch ſinge ſchon, als waͤr er da, Mein Zizipa, mein Zizipa. IV.
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Neue Fabeln.
III.
Die Meiſe und der Sperling.
ES hatte die behertzte Meiſe
Das warme Jahr durch ihre Speiſe
Nach eignem Wuͤnſchen und Verlangen
Vollauf und ohne Muͤh empfangen.
Bald fieng der Nordwind an zu raſen,
Es wurde durch ſein kaltes Blaſen
Des Berges Gipfel ſilberweiß,
Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß,
Das Feld als Stein, und durch die Kaͤlte
Sah man in vielen Baͤumen Spaͤlte.
Ey Vogel, nimmſt du ſo verlieb
Mit der mit Eiß gewuͤrtzten Speiſe?
So ſprach der kleine Saatedieb,
Der Sperling, zu der muntern Meiſe.
Jch fuͤrchte ſehr, du muͤſſeſt ſterben,
Und durch der Kaͤlte Grimm verderben.
Was hilft dich izt dein ſtetes Springen,
Dein Huͤpfen, Fliegen, und dein Singen,
Dein Zizipa, dein Zizipa?
Sing eh: O weh! mein End iſt nah!
Sieh doch, wie hab ich es ſo gut,
Jch zeuge taͤglich friſches Blut;
Von Ueberfluß an Speltz und Gerſten
Moͤgt ich, du ſiehſt es ſelbſt, zerberſten.
Die aufgeweckte Meiſe ſpricht:
Der Meiſen Stamm vergehet nicht,
So lang im Boden Wuͤrmer leben,
Und Muͤcken in den Luͤften ſchweben.
Mein Freund, es waͤr ein gleiches Wunder,
Gieng ein Geſchlecht, mein oder deines, unter.
Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt,
Der lebt vergnuͤgt, und unverzagt.
Der holde Lentz mit ſeinen Schaͤtzen
Wird meinen Mangel ſchon erſetzen.
Jch ſinge ſchon, als waͤr er da,
Mein Zizipa, mein Zizipa.
IV.
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