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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743.

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eine poetische Erzehlung.
weiche Lufft strich bey ihm vorbey, und belustigte
sich das lezte mahl mit seinen Haaren, legte sie
ihm bald auf die Brust, bald streuete sie selbige
auf die Schultern, bald streckte sie dieselbigen in
die Länge, und gerade hernach machte sie darinn
eine wallende Bewegung, wie wenn ohngefehr ein
Stein in die platte See fällt, augenblicklich um
ihn herum cirkelförmige Wellen sich erheben, nie-
dersincken, etwas entfehrnter sich wieder erhöhen,
wieder verliehren, und bald in mehrerer Weite
wieder da sind. Ein Gürtel hielt den Rest von
seinem fliegenden Kleide fest, welches bis an die
Schultern hinter sich gestreifet die Arme fast na-
kend ließ. Die Harfe stützete er fest an seine
Brust, und fuhr mühsam mit einer schweren Hand
über die scharfgezogenen Saiten, und ordnete die
Töne an. Jene gehorsameten seinen Griffen.

Darauf hub er mit einem tiefen Seufzer seine
Augen nach dem Himmel; und damahls fiengen
die goldenen Dräte an sich zu beseelen, sie ant-
worteten seufzend einander, hertzrührende Klag-
töne schwelleten von ihnen auf. Er mischte seine
klingende Stimme unter die Musick, die auf der
zitternden Harfe herumschweifete, und rufte den
Vater der Götter und der Menschen weheklagend
an, daß er die schwartze Greuelthat mit seinem
allessehenden Auge betrachten, und einen gerech-
ten Urtheilspruch abfassen sollte. Er rufte den Apol-
lo an, dessen Saiten selbst die Götter zu Dienste
stehen müssen, und dem er manch rauchendes
Opfer auf seinen Altar geleget hatte. Und dich
ruffete er an, Gerechte Nemesis, die verhütet, daß

die

eine poetiſche Erzehlung.
weiche Lufft ſtrich bey ihm vorbey, und beluſtigte
ſich das lezte mahl mit ſeinen Haaren, legte ſie
ihm bald auf die Bruſt, bald ſtreuete ſie ſelbige
auf die Schultern, bald ſtreckte ſie dieſelbigen in
die Laͤnge, und gerade hernach machte ſie darinn
eine wallende Bewegung, wie wenn ohngefehr ein
Stein in die platte See faͤllt, augenblicklich um
ihn herum cirkelfoͤrmige Wellen ſich erheben, nie-
derſincken, etwas entfehrnter ſich wieder erhoͤhen,
wieder verliehren, und bald in mehrerer Weite
wieder da ſind. Ein Guͤrtel hielt den Reſt von
ſeinem fliegenden Kleide feſt, welches bis an die
Schultern hinter ſich geſtreifet die Arme faſt na-
kend ließ. Die Harfe ſtuͤtzete er feſt an ſeine
Bruſt, und fuhr muͤhſam mit einer ſchweren Hand
uͤber die ſcharfgezogenen Saiten, und ordnete die
Toͤne an. Jene gehorſameten ſeinen Griffen.

Darauf hub er mit einem tiefen Seufzer ſeine
Augen nach dem Himmel; und damahls fiengen
die goldenen Draͤte an ſich zu beſeelen, ſie ant-
worteten ſeufzend einander, hertzruͤhrende Klag-
toͤne ſchwelleten von ihnen auf. Er miſchte ſeine
klingende Stimme unter die Muſick, die auf der
zitternden Harfe herumſchweifete, und rufte den
Vater der Goͤtter und der Menſchen weheklagend
an, daß er die ſchwartze Greuelthat mit ſeinem
allesſehenden Auge betrachten, und einen gerech-
ten Urtheilſpruch abfaſſen ſollte. Er rufte den Apol-
lo an, deſſen Saiten ſelbſt die Goͤtter zu Dienſte
ſtehen muͤſſen, und dem er manch rauchendes
Opfer auf ſeinen Altar geleget hatte. Und dich
ruffete er an, Gerechte Nemeſis, die verhuͤtet, daß

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[77/0079] eine poetiſche Erzehlung. weiche Lufft ſtrich bey ihm vorbey, und beluſtigte ſich das lezte mahl mit ſeinen Haaren, legte ſie ihm bald auf die Bruſt, bald ſtreuete ſie ſelbige auf die Schultern, bald ſtreckte ſie dieſelbigen in die Laͤnge, und gerade hernach machte ſie darinn eine wallende Bewegung, wie wenn ohngefehr ein Stein in die platte See faͤllt, augenblicklich um ihn herum cirkelfoͤrmige Wellen ſich erheben, nie- derſincken, etwas entfehrnter ſich wieder erhoͤhen, wieder verliehren, und bald in mehrerer Weite wieder da ſind. Ein Guͤrtel hielt den Reſt von ſeinem fliegenden Kleide feſt, welches bis an die Schultern hinter ſich geſtreifet die Arme faſt na- kend ließ. Die Harfe ſtuͤtzete er feſt an ſeine Bruſt, und fuhr muͤhſam mit einer ſchweren Hand uͤber die ſcharfgezogenen Saiten, und ordnete die Toͤne an. Jene gehorſameten ſeinen Griffen. Darauf hub er mit einem tiefen Seufzer ſeine Augen nach dem Himmel; und damahls fiengen die goldenen Draͤte an ſich zu beſeelen, ſie ant- worteten ſeufzend einander, hertzruͤhrende Klag- toͤne ſchwelleten von ihnen auf. Er miſchte ſeine klingende Stimme unter die Muſick, die auf der zitternden Harfe herumſchweifete, und rufte den Vater der Goͤtter und der Menſchen weheklagend an, daß er die ſchwartze Greuelthat mit ſeinem allesſehenden Auge betrachten, und einen gerech- ten Urtheilſpruch abfaſſen ſollte. Er rufte den Apol- lo an, deſſen Saiten ſelbſt die Goͤtter zu Dienſte ſtehen muͤſſen, und dem er manch rauchendes Opfer auf ſeinen Altar geleget hatte. Und dich ruffete er an, Gerechte Nemeſis, die verhuͤtet, daß die

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743/79>, abgerufen am 24.11.2024.