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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743.

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Arion
unterschossen sind, die ihren Schwantz durch das
flache Meer als einen langen Stamm nachziehet,
würde ihn in ihrem beinernen und mit Gift ange-
feuchteten Rachen zerquetschen. An seinem Rü-
ken jagten ihm gräuliche und verrätherische Gesich-
ter einen kalten Schweiß aus. Bis izo hatte er
noch immer gehoffet, etwann ein Schiff von ferne
zu erblicken, in welches er sich mit Schwimmen
retten könnte; aber die Augen schossen vergebens
hin und her; er sah nichts als den nahen Tod.
Wie ein zartes Rehe, welches das erste mahl von
seiner sorgfältigen Mutter, die ihm beständig zur
Seite läufft, auf die Weide geführet wird, und
durch ein plötzliches Rauschen der Disteln, die den
Nachsehenden den Weg hindern, das einsmahli-
ge Geschrey der auf den Raub erpichten Jäger,
das Bellen der Hunde, das lermende Getöne des
Jagdhorns schüchtern wird, und sich verirret; wenn
es sich gantz allein und umzingelt siehet, und mer-
ket, daß es dem Verfolger selbst in die Hände ge-
lauffen, ungewiß hin und her schiesset, blöket,
sich wundert, daß seine Mutter so lange ausbleibet ihm
zu helffen: Da indessen der gewisse Pfeil von einer
starcken Hand ihm nach dem Hertzen eilet, und
sein zartes Blut auf die Erde verschüttet. So ver-
lassen stuhnd Arion auf dem hohen Vörderschnabel
des Schiffes, mitten unter erboßten Mördern.
Kurtz zuvor blühete noch die Jugend auf seinen
Wangen, und die spiegelglatte Stirne, wo sich
noch keine sorgenvolle Falte aufgeleget hatte, zeig-
te den Lentzen des Lebens an; aber izo saß die blas-
se Farbe des Todes auf seinem Gesichte. Die

wei-

Arion
unterſchoſſen ſind, die ihren Schwantz durch das
flache Meer als einen langen Stamm nachziehet,
wuͤrde ihn in ihrem beinernen und mit Gift ange-
feuchteten Rachen zerquetſchen. An ſeinem Ruͤ-
ken jagten ihm graͤuliche und verraͤtheriſche Geſich-
ter einen kalten Schweiß aus. Bis izo hatte er
noch immer gehoffet, etwann ein Schiff von ferne
zu erblicken, in welches er ſich mit Schwimmen
retten koͤnnte; aber die Augen ſchoſſen vergebens
hin und her; er ſah nichts als den nahen Tod.
Wie ein zartes Rehe, welches das erſte mahl von
ſeiner ſorgfaͤltigen Mutter, die ihm beſtaͤndig zur
Seite laͤufft, auf die Weide gefuͤhret wird, und
durch ein ploͤtzliches Rauſchen der Diſteln, die den
Nachſehenden den Weg hindern, das einsmahli-
ge Geſchrey der auf den Raub erpichten Jaͤger,
das Bellen der Hunde, das lermende Getoͤne des
Jagdhorns ſchuͤchtern wird, und ſich verirret; wenn
es ſich gantz allein und umzingelt ſiehet, und mer-
ket, daß es dem Verfolger ſelbſt in die Haͤnde ge-
lauffen, ungewiß hin und her ſchieſſet, bloͤket,
ſich wundert, daß ſeine Mutter ſo lange ausbleibet ihm
zu helffen: Da indeſſen der gewiſſe Pfeil von einer
ſtarcken Hand ihm nach dem Hertzen eilet, und
ſein zartes Blut auf die Erde verſchuͤttet. So ver-
laſſen ſtuhnd Arion auf dem hohen Voͤrderſchnabel
des Schiffes, mitten unter erboßten Moͤrdern.
Kurtz zuvor bluͤhete noch die Jugend auf ſeinen
Wangen, und die ſpiegelglatte Stirne, wo ſich
noch keine ſorgenvolle Falte aufgeleget hatte, zeig-
te den Lentzen des Lebens an; aber izo ſaß die blaſ-
ſe Farbe des Todes auf ſeinem Geſichte. Die

wei-
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[76/0078] Arion unterſchoſſen ſind, die ihren Schwantz durch das flache Meer als einen langen Stamm nachziehet, wuͤrde ihn in ihrem beinernen und mit Gift ange- feuchteten Rachen zerquetſchen. An ſeinem Ruͤ- ken jagten ihm graͤuliche und verraͤtheriſche Geſich- ter einen kalten Schweiß aus. Bis izo hatte er noch immer gehoffet, etwann ein Schiff von ferne zu erblicken, in welches er ſich mit Schwimmen retten koͤnnte; aber die Augen ſchoſſen vergebens hin und her; er ſah nichts als den nahen Tod. Wie ein zartes Rehe, welches das erſte mahl von ſeiner ſorgfaͤltigen Mutter, die ihm beſtaͤndig zur Seite laͤufft, auf die Weide gefuͤhret wird, und durch ein ploͤtzliches Rauſchen der Diſteln, die den Nachſehenden den Weg hindern, das einsmahli- ge Geſchrey der auf den Raub erpichten Jaͤger, das Bellen der Hunde, das lermende Getoͤne des Jagdhorns ſchuͤchtern wird, und ſich verirret; wenn es ſich gantz allein und umzingelt ſiehet, und mer- ket, daß es dem Verfolger ſelbſt in die Haͤnde ge- lauffen, ungewiß hin und her ſchieſſet, bloͤket, ſich wundert, daß ſeine Mutter ſo lange ausbleibet ihm zu helffen: Da indeſſen der gewiſſe Pfeil von einer ſtarcken Hand ihm nach dem Hertzen eilet, und ſein zartes Blut auf die Erde verſchuͤttet. So ver- laſſen ſtuhnd Arion auf dem hohen Voͤrderſchnabel des Schiffes, mitten unter erboßten Moͤrdern. Kurtz zuvor bluͤhete noch die Jugend auf ſeinen Wangen, und die ſpiegelglatte Stirne, wo ſich noch keine ſorgenvolle Falte aufgeleget hatte, zeig- te den Lentzen des Lebens an; aber izo ſaß die blaſ- ſe Farbe des Todes auf ſeinem Geſichte. Die wei-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743/78>, abgerufen am 24.11.2024.