"ben gehabt haben. - - Wohlfliessende Ver- "se zu schreiben ist die geringste obgleich nöthige "Tugend eines Poeten, und verdienet niemand "diesen Nahmen, der nicht zugleich die Eigen- "schaft der Sprache, in der er schreibt, und der- "selben Stärcke zierlich auszudrücken, und da- "bey mit grosser Sinnlichkeit zu schreiben weiß. "Die höchste Vollkommenheit der Poesie aber be- "steht darinnen, daß man erstlich die Anständ- "lichkeit in allen Dingen genau beobachte, und "hernach durch edle und großmüthige Meinungen "die Seele seines Lesers entzücke. - - Bey "uns haben Opitz und Gryph, und derselben zwey "berühmte Nachfolger, Hofmannswaldau und "Lohenstein den grösten Preiß bisher verdienet. "Diese zwey letztern insonderheit werden anizt "am meisten gelesen. Sinnreich und lieblich ist "der erste; sinnreich und durchdringend der an- "dere. Jenen ist jedermann geneigt; diesen ist "jedermann gezwungen zu rühmen. Man findet "in der That in den Trauerspielen des leztern "unterschiedliche vortreffliche Oerter, und unter "denen einige, welche es in Ausdrückung einer "Sache den besten alten Poeten gleich thun. "Wenn man aber die Wahrheit gestehen darf, "so hat er sich auch hierinnen unterweilen durch "seine Hitze so weit verführen lassen, daß er schö- "ne Sachen zur Unzeit angebracht; und prächti- "ge Worte seinem Verstande zum Nachtheil, "und gleichsam in einer poetischen Raserey geschrie- "ben hat. Unzeitiger Witz ist Unverstand, und "die Einfalt hingegen in vielen Gelegenheiten
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der Critik bey den Deutſchen.
„ben gehabt haben. ‒ ‒ Wohlflieſſende Ver- „ſe zu ſchreiben iſt die geringſte obgleich noͤthige „Tugend eines Poeten, und verdienet niemand „dieſen Nahmen, der nicht zugleich die Eigen- „ſchaft der Sprache, in der er ſchreibt, und der- „ſelben Staͤrcke zierlich auszudruͤcken, und da- „bey mit groſſer Sinnlichkeit zu ſchreiben weiß. „Die hoͤchſte Vollkommenheit der Poeſie aber be- „ſteht darinnen, daß man erſtlich die Anſtaͤnd- „lichkeit in allen Dingen genau beobachte, und „hernach durch edle und großmuͤthige Meinungen „die Seele ſeines Leſers entzuͤcke. ‒ ‒ Bey „uns haben Opitz und Gryph, und derſelben zwey „beruͤhmte Nachfolger, Hofmannswaldau und „Lohenſtein den groͤſten Preiß bisher verdienet. „Dieſe zwey letztern inſonderheit werden anizt „am meiſten geleſen. Sinnreich und lieblich iſt „der erſte; ſinnreich und durchdringend der an- „dere. Jenen iſt jedermann geneigt; dieſen iſt „jedermann gezwungen zu ruͤhmen. Man findet „in der That in den Trauerſpielen des leztern „unterſchiedliche vortreffliche Oerter, und unter „denen einige, welche es in Ausdruͤckung einer „Sache den beſten alten Poeten gleich thun. „Wenn man aber die Wahrheit geſtehen darf, „ſo hat er ſich auch hierinnen unterweilen durch „ſeine Hitze ſo weit verfuͤhren laſſen, daß er ſchoͤ- „ne Sachen zur Unzeit angebracht; und praͤchti- „ge Worte ſeinem Verſtande zum Nachtheil, „und gleichſam in einer poetiſchen Raſerey geſchrie- „ben hat. Unzeitiger Witz iſt Unverſtand, und „die Einfalt hingegen in vielen Gelegenheiten
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der Critik bey den Deutſchen.
„ben gehabt haben. ‒ ‒ Wohlflieſſende Ver-
„ſe zu ſchreiben iſt die geringſte obgleich noͤthige
„Tugend eines Poeten, und verdienet niemand
„dieſen Nahmen, der nicht zugleich die Eigen-
„ſchaft der Sprache, in der er ſchreibt, und der-
„ſelben Staͤrcke zierlich auszudruͤcken, und da-
„bey mit groſſer Sinnlichkeit zu ſchreiben weiß.
„Die hoͤchſte Vollkommenheit der Poeſie aber be-
„ſteht darinnen, daß man erſtlich die Anſtaͤnd-
„lichkeit in allen Dingen genau beobachte, und
„hernach durch edle und großmuͤthige Meinungen
„die Seele ſeines Leſers entzuͤcke. ‒ ‒ Bey
„uns haben Opitz und Gryph, und derſelben zwey
„beruͤhmte Nachfolger, Hofmannswaldau und
„Lohenſtein den groͤſten Preiß bisher verdienet.
„Dieſe zwey letztern inſonderheit werden anizt
„am meiſten geleſen. Sinnreich und lieblich iſt
„der erſte; ſinnreich und durchdringend der an-
„dere. Jenen iſt jedermann geneigt; dieſen iſt
„jedermann gezwungen zu ruͤhmen. Man findet
„in der That in den Trauerſpielen des leztern
„unterſchiedliche vortreffliche Oerter, und unter
„denen einige, welche es in Ausdruͤckung einer
„Sache den beſten alten Poeten gleich thun.
„Wenn man aber die Wahrheit geſtehen darf,
„ſo hat er ſich auch hierinnen unterweilen durch
„ſeine Hitze ſo weit verfuͤhren laſſen, daß er ſchoͤ-
„ne Sachen zur Unzeit angebracht; und praͤchti-
„ge Worte ſeinem Verſtande zum Nachtheil,
„und gleichſam in einer poetiſchen Raſerey geſchrie-
„ben hat. Unzeitiger Witz iſt Unverſtand, und
„die Einfalt hingegen in vielen Gelegenheiten
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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/107>, abgerufen am 22.07.2024.
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