[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.Versuch von den Eigenschaften Beyde mussen ihr Licht vom Himmel empfangen,und der erste muß zum Urtheilen eben sowohl geboh- ren seyn, als der lezte zum Schreiben. Nur die- se sollten andere unterrichten, (a) die selbst grosse Meister sind, und nur diese solten frey tadeln dür- fen, die selber wohl geschrieben haben. Es ist wahr, ein Scribent ist von seinem Witze einge- nommen: Aber ist es der Kunstrichter nicht auch von seinem Urtheile? Zwar was den ersten Samen der Beurthei- Einer (a) Qui scribit artificiose ab aliis commode scripta facile intelligere poterit. Cicero ad Heren. lib. 4. (b) Omnes tacito quodam sensu sinc ulla arte aut ra-
tione, quae sint in artibiis ac rationibus recta ac prava di- judicant. Cic. de Orat. lib. 3. Verſuch von den Eigenſchaften Beyde muſſen ihr Licht vom Himmel empfangen,und der erſte muß zum Urtheilen eben ſowohl geboh- ren ſeyn, als der lezte zum Schreiben. Nur die- ſe ſollten andere unterrichten, (a) die ſelbſt groſſe Meiſter ſind, und nur dieſe ſolten frey tadeln duͤr- fen, die ſelber wohl geſchrieben haben. Es iſt wahr, ein Scribent iſt von ſeinem Witze einge- nommen: Aber iſt es der Kunſtrichter nicht auch von ſeinem Urtheile? Zwar was den erſten Samen der Beurthei- Einer (a) Qui ſcribit artificioſe ab aliis commode ſcripta facile intelligere poterit. Cicero ad Heren. lib. 4. (b) Omnes tacito quodam ſenſu ſinc ulla arte aut ra-
tione, quæ ſint in artibiis ac rationibus recta ac prava di- judicant. Cic. de Orat. lib. 3. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0068" n="52"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Verſuch von den Eigenſchaften</hi></fw><lb/> Beyde muſſen ihr Licht vom Himmel empfangen,<lb/> und der erſte muß zum Urtheilen eben ſowohl geboh-<lb/> ren ſeyn, als der lezte zum Schreiben. Nur die-<lb/> ſe ſollten andere unterrichten, <note place="foot" n="(a)"><hi rendition="#aq">Qui ſcribit artificioſe ab aliis commode ſcripta<lb/> facile intelligere poterit. Cicero ad Heren. lib.</hi> 4.</note> die ſelbſt groſſe<lb/> Meiſter ſind, und nur dieſe ſolten frey tadeln duͤr-<lb/> fen, die ſelber wohl geſchrieben haben. Es iſt<lb/> wahr, ein Scribent iſt von ſeinem Witze einge-<lb/> nommen: Aber iſt es der Kunſtrichter nicht auch<lb/> von ſeinem Urtheile?</p><lb/> <p>Zwar was den erſten Samen der Beurthei-<lb/> lungskraft anbelangt, ſo finden wir ihn, nach<lb/> genauer Einſicht, bey den meiſten Leuten. Die<lb/> Natur giebt ihnen wenigſtens <note place="foot" n="(b)"><hi rendition="#aq">Omnes tacito quodam ſenſu ſinc ulla arte aut ra-<lb/> tione, quæ ſint in artibiis ac rationibus recta ac prava di-<lb/> judicant. Cic. de Orat. lib.</hi> 3.</note> ein glimmen-<lb/> des Lichtgen. Die Anfangszuͤge dieſer Faͤhigkeit<lb/> finden ſich richtig, obwol nur matt und ſchwaͤch-<lb/> lich in ihnen entworfen. Allein wie ein gar zu<lb/> ſchwacher Umriß, wenn er regelmaͤſſig iſt, durch<lb/> ein ungeſchicktes Uebermalen nur deſto mehr ver-<lb/> derbet wird, ſo wird auch die geſunde Ver-<lb/> nunft durch eine falſche Schulgelehrtheit verſtellet.<lb/> Manche werden in dem Jrrgarten der Schulen<lb/> verwirrt, und manche aus bloſſen Einfaͤltigen,<lb/> wozu ſie die Natur beſtimmt hatte, zu laͤcherli-<lb/> chen Thoren. Dieſer verliehrt die Vernunft,<lb/> weil er dem Witze nachjagt, und dann wird er<lb/> ein Kunſtrichter, um ſich ſelbſt zu vertheidigen.<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Einer</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [52/0068]
Verſuch von den Eigenſchaften
Beyde muſſen ihr Licht vom Himmel empfangen,
und der erſte muß zum Urtheilen eben ſowohl geboh-
ren ſeyn, als der lezte zum Schreiben. Nur die-
ſe ſollten andere unterrichten, (a) die ſelbſt groſſe
Meiſter ſind, und nur dieſe ſolten frey tadeln duͤr-
fen, die ſelber wohl geſchrieben haben. Es iſt
wahr, ein Scribent iſt von ſeinem Witze einge-
nommen: Aber iſt es der Kunſtrichter nicht auch
von ſeinem Urtheile?
Zwar was den erſten Samen der Beurthei-
lungskraft anbelangt, ſo finden wir ihn, nach
genauer Einſicht, bey den meiſten Leuten. Die
Natur giebt ihnen wenigſtens (b) ein glimmen-
des Lichtgen. Die Anfangszuͤge dieſer Faͤhigkeit
finden ſich richtig, obwol nur matt und ſchwaͤch-
lich in ihnen entworfen. Allein wie ein gar zu
ſchwacher Umriß, wenn er regelmaͤſſig iſt, durch
ein ungeſchicktes Uebermalen nur deſto mehr ver-
derbet wird, ſo wird auch die geſunde Ver-
nunft durch eine falſche Schulgelehrtheit verſtellet.
Manche werden in dem Jrrgarten der Schulen
verwirrt, und manche aus bloſſen Einfaͤltigen,
wozu ſie die Natur beſtimmt hatte, zu laͤcherli-
chen Thoren. Dieſer verliehrt die Vernunft,
weil er dem Witze nachjagt, und dann wird er
ein Kunſtrichter, um ſich ſelbſt zu vertheidigen.
Einer
(a) Qui ſcribit artificioſe ab aliis commode ſcripta
facile intelligere poterit. Cicero ad Heren. lib. 4.
(b) Omnes tacito quodam ſenſu ſinc ulla arte aut ra-
tione, quæ ſint in artibiis ac rationibus recta ac prava di-
judicant. Cic. de Orat. lib. 3.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |