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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Von dem Sinnreichen

Die Exempel, welche Phyllis zur Bestätigung
ihrer Lehrsäze anführet, sind wiederum von unglei-
cher Art. Das erste aus Canitz verdienet den
Nahmen des Scharfsinnigen mit höchstem Rechte:
Die Tugend entgehet uns allemahl zur Unzeit/
und weil gemeiniglich auf einen schönen Mor-
gen ein schöner Mittag folget; so giebt es ein
trauriges Ansehen/ wann die Sonne verdun-
kelt wird, eh sie kaum halb über unsern Horizont
gestiegen.
Der Mittag unsers Lebens ist das
Mittel von dem menschlichen Alter, in welchem
man noch so viele Lebens-Jahre vor sich siehet,
als man ungefehr hinter sich gelegt hat; wann nun
der Mensch in der besten Kraft seiner Jahre stirbt,
ist es dem ordentlichen Laufe nach was eben so uner-
wartetes, als wenn die Sonne mitten an dem Him-
mel, wo sie zu Mittag stehet, verfinstert wird, wel-
ches sonst erst auf den Abend bey ihrem Untergang
zu geschehen pflegt. Aber um so viel trauriger und
unerwarteter ist das frühzeitige Ableben einer tu-
gendhaften Person, als man mehr Ursachen hat,
sich nach einem mässigen und tugendhaften Leben
ein hohes Alter zu versprechen, eben wie nach ei-
nem schönen Morgen ein schöner Mittag zu fol-
gen pfleget. Die nächstdarauf folgende Stelle
aus Hrn. von Bessers Leichengedichten ist von
einer vermischten Art. Die erste Zeile:

Ach daß die bleiche Zeit auch Purpur bleichen mag!

ist sehr schwach; weil die Aehnlichkeit allzu ent-
fernt ist. Purpur ist die Kleidung königlicher Per-
sonen, und die Leibfarbe der Schönen. Es ist
zwar schade, daß die hohe Farbe des Purpurs durch

die
Von dem Sinnreichen

Die Exempel, welche Phyllis zur Beſtaͤtigung
ihrer Lehrſaͤze anfuͤhret, ſind wiederum von unglei-
cher Art. Das erſte aus Canitz verdienet den
Nahmen des Scharfſinnigen mit hoͤchſtem Rechte:
Die Tugend entgehet uns allemahl zur Unzeit/
und weil gemeiniglich auf einen ſchoͤnen Mor-
gen ein ſchoͤner Mittag folget; ſo giebt es ein
trauriges Anſehen/ wann die Sonne verdun-
kelt wird, eh ſie kaum halb uͤber unſern Horizont
geſtiegen.
Der Mittag unſers Lebens iſt das
Mittel von dem menſchlichen Alter, in welchem
man noch ſo viele Lebens-Jahre vor ſich ſiehet,
als man ungefehr hinter ſich gelegt hat; wann nun
der Menſch in der beſten Kraft ſeiner Jahre ſtirbt,
iſt es dem ordentlichen Laufe nach was eben ſo uner-
wartetes, als wenn die Sonne mitten an dem Him-
mel, wo ſie zu Mittag ſtehet, verfinſtert wird, wel-
ches ſonſt erſt auf den Abend bey ihrem Untergang
zu geſchehen pflegt. Aber um ſo viel trauriger und
unerwarteter iſt das fruͤhzeitige Ableben einer tu-
gendhaften Perſon, als man mehr Urſachen hat,
ſich nach einem maͤſſigen und tugendhaften Leben
ein hohes Alter zu verſprechen, eben wie nach ei-
nem ſchoͤnen Morgen ein ſchoͤner Mittag zu fol-
gen pfleget. Die naͤchſtdarauf folgende Stelle
aus Hrn. von Beſſers Leichengedichten iſt von
einer vermiſchten Art. Die erſte Zeile:

Ach daß die bleiche Zeit auch Purpur bleichen mag!

iſt ſehr ſchwach; weil die Aehnlichkeit allzu ent-
fernt iſt. Purpur iſt die Kleidung koͤniglicher Per-
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zwar ſchade, daß die hohe Farbe des Purpurs durch

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[104/0120] Von dem Sinnreichen Die Exempel, welche Phyllis zur Beſtaͤtigung ihrer Lehrſaͤze anfuͤhret, ſind wiederum von unglei- cher Art. Das erſte aus Canitz verdienet den Nahmen des Scharfſinnigen mit hoͤchſtem Rechte: Die Tugend entgehet uns allemahl zur Unzeit/ und weil gemeiniglich auf einen ſchoͤnen Mor- gen ein ſchoͤner Mittag folget; ſo giebt es ein trauriges Anſehen/ wann die Sonne verdun- kelt wird, eh ſie kaum halb uͤber unſern Horizont geſtiegen. Der Mittag unſers Lebens iſt das Mittel von dem menſchlichen Alter, in welchem man noch ſo viele Lebens-Jahre vor ſich ſiehet, als man ungefehr hinter ſich gelegt hat; wann nun der Menſch in der beſten Kraft ſeiner Jahre ſtirbt, iſt es dem ordentlichen Laufe nach was eben ſo uner- wartetes, als wenn die Sonne mitten an dem Him- mel, wo ſie zu Mittag ſtehet, verfinſtert wird, wel- ches ſonſt erſt auf den Abend bey ihrem Untergang zu geſchehen pflegt. Aber um ſo viel trauriger und unerwarteter iſt das fruͤhzeitige Ableben einer tu- gendhaften Perſon, als man mehr Urſachen hat, ſich nach einem maͤſſigen und tugendhaften Leben ein hohes Alter zu verſprechen, eben wie nach ei- nem ſchoͤnen Morgen ein ſchoͤner Mittag zu fol- gen pfleget. Die naͤchſtdarauf folgende Stelle aus Hrn. von Beſſers Leichengedichten iſt von einer vermiſchten Art. Die erſte Zeile: Ach daß die bleiche Zeit auch Purpur bleichen mag! iſt ſehr ſchwach; weil die Aehnlichkeit allzu ent- fernt iſt. Purpur iſt die Kleidung koͤniglicher Per- ſonen, und die Leibfarbe der Schoͤnen. Es iſt zwar ſchade, daß die hohe Farbe des Purpurs durch die

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/120>, abgerufen am 24.11.2024.