Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
Betrachtung überwiegt, je nach der verschiedenen Geistesart
der Autoren.

Andere charakteristische Züge der neueren Statswissen-
schaft sind die schärfere Kritik, welche sowohl in der Prü-
fung der Thatsachen als bei der Abstraction aus den That-
sachen und der Construction der Begriffe geübt wird. Diese
Kritik betrachtet den Stat von den verschiedensten Stand-
punkten. Um einige der angesehensten Schriftsteller zu nen-
nen, so tritt in den Werken Roberts von Mohl vorzüglich
der litterarische Gesichtspunkt, aber verbunden mit einer
nüchtern verständigen Prüfung der Brauchbarkeit im Leben
hervor. Alexis de Tocqueville hat immer die Bewegung
der groszen Politik vor Augen, mag er die amerikanische
Demokratie, oder den Zusammenhang der französischen Revo-
lution mit dem ancien regime, oder die Zustände der engli-
schen Aristokratie schildern. Auf die Schriften des Barons
Eötvös hat das Misztrauen gegen die modernen Ideen ein-
gewirkt. John Stuart Mill kritisirt die öffentlichen Zu-
stände von dem radicalen aber durch englisches Naturell er-
mäszigten Standpunkt logischer Abstraction. Thomas Buckle
wendet die naturwissenschaftliche Methode auf die Statslehre
an und versucht das Statsleben aus der Berechnung der wir-
kenden Naturkräfte zu erklären.

Wieder bei andern hat die Kritik einen entschieden ge-
schichtlichen
Charakter, wie vorzüglich bei Gneist, dem
gröszten Kenner der englischen Verfaszungsgeschichte, bei
Edouard Laboulaye, der mit Vorliebe den nordamerika-
nischen Stat beachtet, und bei Heinrich von Treitschke,
der zuerst die Bedeutung der preuszischen Monarchie glänzend
beleuchtet hat. Bei Lorenz von Stein folgt dieselbe mehr
noch der pragmatischen Richtung auf die Statsverwaltung
im Einzelnen.

In der neueren Schule Gerbers hat die Kritik vorzugs-
weise einen juristischen Charakter bekommen, der aber,

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 6

Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
Betrachtung überwiegt, je nach der verschiedenen Geistesart
der Autoren.

Andere charakteristische Züge der neueren Statswissen-
schaft sind die schärfere Kritik, welche sowohl in der Prü-
fung der Thatsachen als bei der Abstraction aus den That-
sachen und der Construction der Begriffe geübt wird. Diese
Kritik betrachtet den Stat von den verschiedensten Stand-
punkten. Um einige der angesehensten Schriftsteller zu nen-
nen, so tritt in den Werken Roberts von Mohl vorzüglich
der litterarische Gesichtspunkt, aber verbunden mit einer
nüchtern verständigen Prüfung der Brauchbarkeit im Leben
hervor. Alexis de Tocqueville hat immer die Bewegung
der groszen Politik vor Augen, mag er die amerikanische
Demokratie, oder den Zusammenhang der französischen Revo-
lution mit dem ancien régime, oder die Zustände der engli-
schen Aristokratie schildern. Auf die Schriften des Barons
Eötvös hat das Misztrauen gegen die modernen Ideen ein-
gewirkt. John Stuart Mill kritisirt die öffentlichen Zu-
stände von dem radicalen aber durch englisches Naturell er-
mäszigten Standpunkt logischer Abstraction. Thomas Buckle
wendet die naturwissenschaftliche Methode auf die Statslehre
an und versucht das Statsleben aus der Berechnung der wir-
kenden Naturkräfte zu erklären.

Wieder bei andern hat die Kritik einen entschieden ge-
schichtlichen
Charakter, wie vorzüglich bei Gneist, dem
gröszten Kenner der englischen Verfaszungsgeschichte, bei
Édouard Laboulaye, der mit Vorliebe den nordamerika-
nischen Stat beachtet, und bei Heinrich von Treitschke,
der zuerst die Bedeutung der preuszischen Monarchie glänzend
beleuchtet hat. Bei Lorenz von Stein folgt dieselbe mehr
noch der pragmatischen Richtung auf die Statsverwaltung
im Einzelnen.

In der neueren Schule Gerbers hat die Kritik vorzugs-
weise einen juristischen Charakter bekommen, der aber,

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0099" n="81"/><fw place="top" type="header">Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.</fw><lb/>
Betrachtung überwiegt, je nach der verschiedenen Geistesart<lb/>
der Autoren.</p><lb/>
          <p>Andere charakteristische Züge der neueren Statswissen-<lb/>
schaft sind die schärfere <hi rendition="#g">Kritik</hi>, welche sowohl in der Prü-<lb/>
fung der Thatsachen als bei der Abstraction aus den That-<lb/>
sachen und der Construction der Begriffe geübt wird. Diese<lb/>
Kritik betrachtet den Stat von den verschiedensten Stand-<lb/>
punkten. Um einige der angesehensten Schriftsteller zu nen-<lb/>
nen, so tritt in den Werken <hi rendition="#g">Roberts</hi> von <hi rendition="#g">Mohl</hi> vorzüglich<lb/>
der litterarische Gesichtspunkt, aber verbunden mit einer<lb/>
nüchtern verständigen Prüfung der Brauchbarkeit im Leben<lb/>
hervor. <hi rendition="#g">Alexis de Tocqueville</hi> hat immer die Bewegung<lb/>
der groszen <hi rendition="#g">Politik</hi> vor Augen, mag er die amerikanische<lb/>
Demokratie, oder den Zusammenhang der französischen Revo-<lb/>
lution mit dem ancien régime, oder die Zustände der engli-<lb/>
schen Aristokratie schildern. Auf die Schriften des Barons<lb/><hi rendition="#g">Eötvös</hi> hat das Misztrauen gegen die modernen Ideen ein-<lb/>
gewirkt. <hi rendition="#g">John Stuart Mill</hi> kritisirt die öffentlichen Zu-<lb/>
stände von dem radicalen aber durch englisches Naturell er-<lb/>
mäszigten Standpunkt logischer Abstraction. <hi rendition="#g">Thomas Buckle</hi><lb/>
wendet die naturwissenschaftliche Methode auf die Statslehre<lb/>
an und versucht das Statsleben aus der Berechnung der wir-<lb/>
kenden Naturkräfte zu erklären.</p><lb/>
          <p>Wieder bei andern hat die Kritik einen entschieden <hi rendition="#g">ge-<lb/>
schichtlichen</hi> Charakter, wie vorzüglich bei <hi rendition="#g">Gneist</hi>, dem<lb/>
gröszten Kenner der englischen Verfaszungsgeschichte, bei<lb/><hi rendition="#g">Édouard Laboulaye</hi>, der mit Vorliebe den nordamerika-<lb/>
nischen Stat beachtet, und bei <hi rendition="#g">Heinrich</hi> von <hi rendition="#g">Treitschke</hi>,<lb/>
der zuerst die Bedeutung der preuszischen Monarchie glänzend<lb/>
beleuchtet hat. Bei <hi rendition="#g">Lorenz</hi> von <hi rendition="#g">Stein</hi> folgt dieselbe mehr<lb/>
noch der <hi rendition="#g">pragmatischen</hi> Richtung auf die Statsverwaltung<lb/>
im Einzelnen.</p><lb/>
          <p>In der neueren Schule <hi rendition="#g">Gerbers</hi> hat die Kritik vorzugs-<lb/>
weise einen <hi rendition="#g">juristischen</hi> Charakter bekommen, der aber,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Bluntschli</hi>, allgemeine Statslehre. 6</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0099] Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre. Betrachtung überwiegt, je nach der verschiedenen Geistesart der Autoren. Andere charakteristische Züge der neueren Statswissen- schaft sind die schärfere Kritik, welche sowohl in der Prü- fung der Thatsachen als bei der Abstraction aus den That- sachen und der Construction der Begriffe geübt wird. Diese Kritik betrachtet den Stat von den verschiedensten Stand- punkten. Um einige der angesehensten Schriftsteller zu nen- nen, so tritt in den Werken Roberts von Mohl vorzüglich der litterarische Gesichtspunkt, aber verbunden mit einer nüchtern verständigen Prüfung der Brauchbarkeit im Leben hervor. Alexis de Tocqueville hat immer die Bewegung der groszen Politik vor Augen, mag er die amerikanische Demokratie, oder den Zusammenhang der französischen Revo- lution mit dem ancien régime, oder die Zustände der engli- schen Aristokratie schildern. Auf die Schriften des Barons Eötvös hat das Misztrauen gegen die modernen Ideen ein- gewirkt. John Stuart Mill kritisirt die öffentlichen Zu- stände von dem radicalen aber durch englisches Naturell er- mäszigten Standpunkt logischer Abstraction. Thomas Buckle wendet die naturwissenschaftliche Methode auf die Statslehre an und versucht das Statsleben aus der Berechnung der wir- kenden Naturkräfte zu erklären. Wieder bei andern hat die Kritik einen entschieden ge- schichtlichen Charakter, wie vorzüglich bei Gneist, dem gröszten Kenner der englischen Verfaszungsgeschichte, bei Édouard Laboulaye, der mit Vorliebe den nordamerika- nischen Stat beachtet, und bei Heinrich von Treitschke, der zuerst die Bedeutung der preuszischen Monarchie glänzend beleuchtet hat. Bei Lorenz von Stein folgt dieselbe mehr noch der pragmatischen Richtung auf die Statsverwaltung im Einzelnen. In der neueren Schule Gerbers hat die Kritik vorzugs- weise einen juristischen Charakter bekommen, der aber, Bluntschli, allgemeine Statslehre. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/99
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/99>, abgerufen am 24.11.2024.