und kritische Gewandtheit neue Gesichtspunkte zu finden und durch den Scharfblick, mit dem er manche dunkle Stelle be- leuchtete, die Statswissenschaft sehr gefördert; in anderer Hinsicht aber hat sein Mangel an gründlicher historischer Bildung und seine diensteifrige Sophistik, welche den roman- tischen Liebhabereien groszer und kleiner Herren moderne Formeln zur Verfügung stellte, auch in der Wissenschaft groszen Schaden angerichtet. Stahl bezeichnet den Stat als ein "sittlich-intellectuelles Reich." als "die Einigung der Menge zu Einer geordneten Gemeinexistenz, die Aufrichtung einer sittlichen Autorität und Macht mit ihrer Erhabenheit und Majestät und der Hingebung der Unterthanen." Seine Statsidee ist lebendiger als die Hegels, er erkennt auch an, dasz die Herrschaft des States "beschränkt sei auf den Ge- meinzustand" und hütet sich so vor der Ueberspannung des antiken Stats. Aber durch seine ganze Statslehre geht wie ein rother Faden ein Zug der alttestamentlichen Theokratie durch, welcher dieselbe für die moderne europäische Welt doch ungenieszbar macht. Die göttliche -- oder übermenschlich gedachte -- Majestät der Statsgewalt kann mit der menschlich bürgerlichen Freiheit keinen Frieden schlieszen.
7. Verbindung der philosophischen und der historischen Methode. Die nationale Statslehre. Der alte Streit der philosophischen und der geschicht- lichen Schule in Deutschland hat gänzlich aufgehört. Schon zu Anfang der Vierzigerjahre wurde der Friede abgeschlossen. Seitdem wird es allseitig anerkannt, dasz eine geschichtliche Darstellung geistlos ist, wenn sie nicht die Erfahrungen und Erscheinungen der Geschichte mit dem Lichte der Idee be- leuchtet, und dasz eine Speculation kindisch ist, wenn sie nicht die realen Voraussetzungen des Völkerlebens beachtet. Diese Verbindung der beiden Methoden, die sich ergänzen und berichtigen, hindert freilich nicht, dasz nicht bei den einen die philosophische, bei den anderen die geschichtliche
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
und kritische Gewandtheit neue Gesichtspunkte zu finden und durch den Scharfblick, mit dem er manche dunkle Stelle be- leuchtete, die Statswissenschaft sehr gefördert; in anderer Hinsicht aber hat sein Mangel an gründlicher historischer Bildung und seine diensteifrige Sophistik, welche den roman- tischen Liebhabereien groszer und kleiner Herren moderne Formeln zur Verfügung stellte, auch in der Wissenschaft groszen Schaden angerichtet. Stahl bezeichnet den Stat als ein „sittlich-intellectuelles Reich.“ als „die Einigung der Menge zu Einer geordneten Gemeinexistenz, die Aufrichtung einer sittlichen Autorität und Macht mit ihrer Erhabenheit und Majestät und der Hingebung der Unterthanen.“ Seine Statsidee ist lebendiger als die Hegels, er erkennt auch an, dasz die Herrschaft des States „beschränkt sei auf den Ge- meinzustand“ und hütet sich so vor der Ueberspannung des antiken Stats. Aber durch seine ganze Statslehre geht wie ein rother Faden ein Zug der alttestamentlichen Theokratie durch, welcher dieselbe für die moderne europäische Welt doch ungenieszbar macht. Die göttliche — oder übermenschlich gedachte — Majestät der Statsgewalt kann mit der menschlich bürgerlichen Freiheit keinen Frieden schlieszen.
7. Verbindung der philosophischen und der historischen Methode. Die nationale Statslehre. Der alte Streit der philosophischen und der geschicht- lichen Schule in Deutschland hat gänzlich aufgehört. Schon zu Anfang der Vierzigerjahre wurde der Friede abgeschlossen. Seitdem wird es allseitig anerkannt, dasz eine geschichtliche Darstellung geistlos ist, wenn sie nicht die Erfahrungen und Erscheinungen der Geschichte mit dem Lichte der Idee be- leuchtet, und dasz eine Speculation kindisch ist, wenn sie nicht die realen Voraussetzungen des Völkerlebens beachtet. Diese Verbindung der beiden Methoden, die sich ergänzen und berichtigen, hindert freilich nicht, dasz nicht bei den einen die philosophische, bei den anderen die geschichtliche
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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
und kritische Gewandtheit neue Gesichtspunkte zu finden und
durch den Scharfblick, mit dem er manche dunkle Stelle be-
leuchtete, die Statswissenschaft sehr gefördert; in anderer
Hinsicht aber hat sein Mangel an gründlicher historischer
Bildung und seine diensteifrige Sophistik, welche den roman-
tischen Liebhabereien groszer und kleiner Herren moderne
Formeln zur Verfügung stellte, auch in der Wissenschaft
groszen Schaden angerichtet. Stahl bezeichnet den Stat als
ein „sittlich-intellectuelles Reich.“ als „die Einigung der
Menge zu Einer geordneten Gemeinexistenz, die Aufrichtung
einer sittlichen Autorität und Macht mit ihrer Erhabenheit
und Majestät und der Hingebung der Unterthanen.“ Seine
Statsidee ist lebendiger als die Hegels, er erkennt auch an,
dasz die Herrschaft des States „beschränkt sei auf den Ge-
meinzustand“ und hütet sich so vor der Ueberspannung des
antiken Stats. Aber durch seine ganze Statslehre geht wie
ein rother Faden ein Zug der alttestamentlichen Theokratie
durch, welcher dieselbe für die moderne europäische Welt doch
ungenieszbar macht. Die göttliche — oder übermenschlich
gedachte — Majestät der Statsgewalt kann mit der menschlich
bürgerlichen Freiheit keinen Frieden schlieszen.
7. Verbindung der philosophischen und der
historischen Methode. Die nationale Statslehre.
Der alte Streit der philosophischen und der geschicht-
lichen Schule in Deutschland hat gänzlich aufgehört. Schon
zu Anfang der Vierzigerjahre wurde der Friede abgeschlossen.
Seitdem wird es allseitig anerkannt, dasz eine geschichtliche
Darstellung geistlos ist, wenn sie nicht die Erfahrungen und
Erscheinungen der Geschichte mit dem Lichte der Idee be-
leuchtet, und dasz eine Speculation kindisch ist, wenn sie
nicht die realen Voraussetzungen des Völkerlebens beachtet.
Diese Verbindung der beiden Methoden, die sich ergänzen
und berichtigen, hindert freilich nicht, dasz nicht bei den
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/98>, abgerufen am 22.07.2024.
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