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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
nicht seine Statslehre und indem er auf den Consens der
Menschen als die Hauptquelle auch des öffentlichen Rechts
hinweist, gibt er den Anstosz zu der späteren Vertragstheorie.

2. Naturrechtliche Theorien, Vertrags- und
Gesellschaftsstat
. Von dieser Grundlage aus bildete sich
nun die moderne speculative und naturrechtliche
Statslehre weiter aus, und zwar selbständig, auch von der
antiken scharf getrennt. Die Gegensätze der philosophischen
Schulen und der politischen Parteien brachten freilich auch
hier eine grosze und lebhafte Meinungsverschiedenheit hervor;
und fast niemals stimmte der eine Schriftsteller mit dem
andern völlig zusammen. Aber bis in unser Jahrhundert hin-
ein herrschte in den vielerlei Darstellungen des Naturrechts
und des allgemeinen Statsbegriffs der Grundgedanke vor, dasz
der Stat wesentlich eine Gesellschaft von Einzelnen und
daher ein freies Werk der individuellen Willkür sei. Der
absolutistische Hobbes, 4 der die Statsgewalt des Monarchen
zu dem Alles verschlingenden Leviathan macht, ist darin mit
dem radicalen Rousseau 5 einig, dessen Volkssouveränetät
den Fortbestand der ganzen Statsordnung jeden Augenblick
in Frage stellt. Der geistreiche Samuel Puffendorf 6 be-

4 Hobbes de Cive S. 87. "Civitas ergo est persona una (?), cujus
voluntas ex pactis plurium hominum pro voluntate habenda est ipsorum
hominum
; ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et
defensionem communem."
5 Rousseau, Contract Social. c. 6.: "Eine Form der gesellschaft-
lichen Verbindung (Association) zu finden, welche mit aller gemeinsamer
Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschafters ver-
theidige und schirme, und durch welche jeder Einzelne sich mit allen
vereinigend doch nur sich selber gehorche und eben so frei bleibe als
zuvor? das ist das tiefe Problem, das in dem Gesellschaftsvertrag seine
Lösung findet."
6 De jure Naturali et gentium VII. 2. 13. "Unde civitatis haec
commodissima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cujus
voluntas ex plurium pactis implicita et unita pro voluntate omnium ha-
betur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatem
communem uti possit.

Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
nicht seine Statslehre und indem er auf den Consens der
Menschen als die Hauptquelle auch des öffentlichen Rechts
hinweist, gibt er den Anstosz zu der späteren Vertragstheorie.

2. Naturrechtliche Theorien, Vertrags- und
Gesellschaftsstat
. Von dieser Grundlage aus bildete sich
nun die moderne speculative und naturrechtliche
Statslehre weiter aus, und zwar selbständig, auch von der
antiken scharf getrennt. Die Gegensätze der philosophischen
Schulen und der politischen Parteien brachten freilich auch
hier eine grosze und lebhafte Meinungsverschiedenheit hervor;
und fast niemals stimmte der eine Schriftsteller mit dem
andern völlig zusammen. Aber bis in unser Jahrhundert hin-
ein herrschte in den vielerlei Darstellungen des Naturrechts
und des allgemeinen Statsbegriffs der Grundgedanke vor, dasz
der Stat wesentlich eine Gesellschaft von Einzelnen und
daher ein freies Werk der individuellen Willkür sei. Der
absolutistische Hobbes, 4 der die Statsgewalt des Monarchen
zu dem Alles verschlingenden Leviathan macht, ist darin mit
dem radicalen Rousseau 5 einig, dessen Volkssouveränetät
den Fortbestand der ganzen Statsordnung jeden Augenblick
in Frage stellt. Der geistreiche Samuel Puffendorf 6 be-

4 Hobbes de Cive S. 87. „Civitas ergo est persona una (?), cujus
voluntas ex pactis plurium hominum pro voluntate habenda est ipsorum
hominum
; ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et
defensionem communem.“
5 Rousseau, Contract Social. c. 6.: „Eine Form der gesellschaft-
lichen Verbindung (Association) zu finden, welche mit aller gemeinsamer
Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschafters ver-
theidige und schirme, und durch welche jeder Einzelne sich mit allen
vereinigend doch nur sich selber gehorche und eben so frei bleibe als
zuvor? das ist das tiefe Problem, das in dem Gesellschaftsvertrag seine
Lösung findet.“
6 De jure Naturali et gentium VII. 2. 13. „Unde civitatis haec
commodissima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cujus
voluntas ex plurium pactis implicita et unita pro voluntate omnium ha-
betur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatem
communem uti possit.
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[71/0089] Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre. nicht seine Statslehre und indem er auf den Consens der Menschen als die Hauptquelle auch des öffentlichen Rechts hinweist, gibt er den Anstosz zu der späteren Vertragstheorie. 2. Naturrechtliche Theorien, Vertrags- und Gesellschaftsstat. Von dieser Grundlage aus bildete sich nun die moderne speculative und naturrechtliche Statslehre weiter aus, und zwar selbständig, auch von der antiken scharf getrennt. Die Gegensätze der philosophischen Schulen und der politischen Parteien brachten freilich auch hier eine grosze und lebhafte Meinungsverschiedenheit hervor; und fast niemals stimmte der eine Schriftsteller mit dem andern völlig zusammen. Aber bis in unser Jahrhundert hin- ein herrschte in den vielerlei Darstellungen des Naturrechts und des allgemeinen Statsbegriffs der Grundgedanke vor, dasz der Stat wesentlich eine Gesellschaft von Einzelnen und daher ein freies Werk der individuellen Willkür sei. Der absolutistische Hobbes, 4 der die Statsgewalt des Monarchen zu dem Alles verschlingenden Leviathan macht, ist darin mit dem radicalen Rousseau 5 einig, dessen Volkssouveränetät den Fortbestand der ganzen Statsordnung jeden Augenblick in Frage stellt. Der geistreiche Samuel Puffendorf 6 be- 4 Hobbes de Cive S. 87. „Civitas ergo est persona una (?), cujus voluntas ex pactis plurium hominum pro voluntate habenda est ipsorum hominum; ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et defensionem communem.“ 5 Rousseau, Contract Social. c. 6.: „Eine Form der gesellschaft- lichen Verbindung (Association) zu finden, welche mit aller gemeinsamer Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschafters ver- theidige und schirme, und durch welche jeder Einzelne sich mit allen vereinigend doch nur sich selber gehorche und eben so frei bleibe als zuvor? das ist das tiefe Problem, das in dem Gesellschaftsvertrag seine Lösung findet.“ 6 De jure Naturali et gentium VII. 2. 13. „Unde civitatis haec commodissima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cujus voluntas ex plurium pactis implicita et unita pro voluntate omnium ha- betur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatem communem uti possit.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/89>, abgerufen am 27.11.2024.