Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
zeichnet zwar den Stat als eine "sittliche Person," aber der
Statswille ist auch für ihn nur aus den Individualwillen Aller
zusammengesetzt und er bildet die Theorie des Gesellschafts-
vertrags, aus dem der Stat erklärt wird, mit Vorliebe aus.
John Locke vertheidigt ebenso die Vertragslehre mit Eifer
gegen die Angriffe der Frömmler und sieht in ihr eine Garantie
der englischen Bürgerfreiheit. Auch Kant kommt nicht dar-
über hinaus, obwohl er schon den Fusz erhebt, um über
die Schranken der Vertragslehre wegzukommen; 7 und selbst
Fichte in seinen früheren Schriften ist noch in jener An-
sicht befangen.

Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist
wesentlich Vertrags- und Gesellschaftsstat. Hatten die
alten Philosophen über dem Einen Stat die Rechte der Indi-
viduen nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern
Philosophen nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über
der Rücksicht auf die Einzelnmenschen die Bedeutung des
States als eines Ganzen verkannten.

3. Obrigkeitlicher Statsbegriff. Die naturrecht-
liche Lehre von dem Gesellschaftsstate konnte erst in dem
modernen Weltalter zu allgemeiner Verbreitung kommen und
zu Versuchen ihrer Verwirklichung führen. Dem absolutisti-
schen Charakter der beiden Jahrhunderte vor 1740 sagte nur
eine Statslehre zu, welche den Stat von oben her begriff und
vornehmlich auf die obrigkeitliche Gewalt gründete.
Woher diese stamme, wurde dann nicht näher geprüft. Bald
beruhigte man sich bei dem hergebrachten kirchlichen Glau-
ben, dasz die Obrigkeit ihr Schwert von Gott empfangen habe,
bald lehnte man sich an die patrimoniale Ueberlieferung an,
dasz der Fürst der Obereigenthümer des Landes sei. Indessen

7 Werke VII. 197: "Verbindung Vieler zu irgend einem Zwecke ist
in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben,
die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, soferne sie
ein gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen."

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
zeichnet zwar den Stat als eine „sittliche Person,“ aber der
Statswille ist auch für ihn nur aus den Individualwillen Aller
zusammengesetzt und er bildet die Theorie des Gesellschafts-
vertrags, aus dem der Stat erklärt wird, mit Vorliebe aus.
John Locke vertheidigt ebenso die Vertragslehre mit Eifer
gegen die Angriffe der Frömmler und sieht in ihr eine Garantie
der englischen Bürgerfreiheit. Auch Kant kommt nicht dar-
über hinaus, obwohl er schon den Fusz erhebt, um über
die Schranken der Vertragslehre wegzukommen; 7 und selbst
Fichte in seinen früheren Schriften ist noch in jener An-
sicht befangen.

Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist
wesentlich Vertrags- und Gesellschaftsstat. Hatten die
alten Philosophen über dem Einen Stat die Rechte der Indi-
viduen nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern
Philosophen nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über
der Rücksicht auf die Einzelnmenschen die Bedeutung des
States als eines Ganzen verkannten.

3. Obrigkeitlicher Statsbegriff. Die naturrecht-
liche Lehre von dem Gesellschaftsstate konnte erst in dem
modernen Weltalter zu allgemeiner Verbreitung kommen und
zu Versuchen ihrer Verwirklichung führen. Dem absolutisti-
schen Charakter der beiden Jahrhunderte vor 1740 sagte nur
eine Statslehre zu, welche den Stat von oben her begriff und
vornehmlich auf die obrigkeitliche Gewalt gründete.
Woher diese stamme, wurde dann nicht näher geprüft. Bald
beruhigte man sich bei dem hergebrachten kirchlichen Glau-
ben, dasz die Obrigkeit ihr Schwert von Gott empfangen habe,
bald lehnte man sich an die patrimoniale Ueberlieferung an,
dasz der Fürst der Obereigenthümer des Landes sei. Indessen

7 Werke VII. 197: „Verbindung Vieler zu irgend einem Zwecke ist
in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben,
die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, soferne sie
ein gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0090" n="72"/><fw place="top" type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/>
zeichnet zwar den Stat als eine &#x201E;sittliche Person,&#x201C; aber der<lb/>
Statswille ist auch für ihn nur aus den Individualwillen Aller<lb/>
zusammengesetzt und er bildet die Theorie des Gesellschafts-<lb/>
vertrags, aus dem der Stat erklärt wird, mit Vorliebe aus.<lb/><hi rendition="#g">John Locke</hi> vertheidigt ebenso die Vertragslehre mit Eifer<lb/>
gegen die Angriffe der Frömmler und sieht in ihr eine Garantie<lb/>
der englischen Bürgerfreiheit. Auch <hi rendition="#g">Kant</hi> kommt nicht dar-<lb/>
über hinaus, obwohl er schon den Fusz erhebt, um über<lb/>
die Schranken der Vertragslehre wegzukommen; <note place="foot" n="7">Werke VII. 197: &#x201E;Verbindung Vieler zu irgend einem Zwecke ist<lb/>
in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben,<lb/>
die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, soferne sie<lb/>
ein gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen.&#x201C;</note> und selbst<lb/><hi rendition="#g">Fichte</hi> in seinen früheren Schriften ist noch in jener An-<lb/>
sicht befangen.</p><lb/>
          <p>Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist<lb/>
wesentlich <hi rendition="#g">Vertrags</hi>- und <hi rendition="#g">Gesellschaftsstat</hi>. Hatten die<lb/>
alten Philosophen über dem Einen Stat die Rechte der Indi-<lb/>
viduen nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern<lb/>
Philosophen nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über<lb/>
der Rücksicht auf die Einzelnmenschen die Bedeutung des<lb/>
States als eines Ganzen verkannten.</p><lb/>
          <p>3. <hi rendition="#g">Obrigkeitlicher Statsbegriff</hi>. Die naturrecht-<lb/>
liche Lehre von dem Gesellschaftsstate konnte erst in dem<lb/>
modernen Weltalter zu allgemeiner Verbreitung kommen und<lb/>
zu Versuchen ihrer Verwirklichung führen. Dem absolutisti-<lb/>
schen Charakter der beiden Jahrhunderte vor 1740 sagte nur<lb/>
eine Statslehre zu, welche den Stat von oben her begriff und<lb/>
vornehmlich auf die <hi rendition="#g">obrigkeitliche Gewalt</hi> gründete.<lb/>
Woher diese stamme, wurde dann nicht näher geprüft. Bald<lb/>
beruhigte man sich bei dem hergebrachten kirchlichen Glau-<lb/>
ben, dasz die Obrigkeit ihr Schwert von Gott empfangen habe,<lb/>
bald lehnte man sich an die patrimoniale Ueberlieferung an,<lb/>
dasz der Fürst der Obereigenthümer des Landes sei. Indessen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0090] Erstes Buch. Der Statsbegriff. zeichnet zwar den Stat als eine „sittliche Person,“ aber der Statswille ist auch für ihn nur aus den Individualwillen Aller zusammengesetzt und er bildet die Theorie des Gesellschafts- vertrags, aus dem der Stat erklärt wird, mit Vorliebe aus. John Locke vertheidigt ebenso die Vertragslehre mit Eifer gegen die Angriffe der Frömmler und sieht in ihr eine Garantie der englischen Bürgerfreiheit. Auch Kant kommt nicht dar- über hinaus, obwohl er schon den Fusz erhebt, um über die Schranken der Vertragslehre wegzukommen; 7 und selbst Fichte in seinen früheren Schriften ist noch in jener An- sicht befangen. Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist wesentlich Vertrags- und Gesellschaftsstat. Hatten die alten Philosophen über dem Einen Stat die Rechte der Indi- viduen nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern Philosophen nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über der Rücksicht auf die Einzelnmenschen die Bedeutung des States als eines Ganzen verkannten. 3. Obrigkeitlicher Statsbegriff. Die naturrecht- liche Lehre von dem Gesellschaftsstate konnte erst in dem modernen Weltalter zu allgemeiner Verbreitung kommen und zu Versuchen ihrer Verwirklichung führen. Dem absolutisti- schen Charakter der beiden Jahrhunderte vor 1740 sagte nur eine Statslehre zu, welche den Stat von oben her begriff und vornehmlich auf die obrigkeitliche Gewalt gründete. Woher diese stamme, wurde dann nicht näher geprüft. Bald beruhigte man sich bei dem hergebrachten kirchlichen Glau- ben, dasz die Obrigkeit ihr Schwert von Gott empfangen habe, bald lehnte man sich an die patrimoniale Ueberlieferung an, dasz der Fürst der Obereigenthümer des Landes sei. Indessen 7 Werke VII. 197: „Verbindung Vieler zu irgend einem Zwecke ist in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, soferne sie ein gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/90
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/90>, abgerufen am 27.11.2024.